Eskalation
In der Situation kam es dann zum Eklat.
Felicia´s Freund hatte Geburtstag und sie wollte in ruhiger Zweisamkeit mit ihm in der Küche frühstücken.
So weit, so gut, da hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn sie einfach Mal Bescheid gesagt hätte. Das Problem war für mich nur, dass sie die Mama vorgeschickt hatte.
Janina hatte es mir gegenüber nicht wirklich deutlich erwähnt, ich konnte es nur zwischen den Zeilen lesen und war mir nicht einmal sicher, ob ich es richtig verstanden hatte.
Also war ich nach unserem Frühstück entspannt mit der Zeitung in der Küche sitzen geblieben und hatte gelesen. Wenn es wirklich so sein sollte, würde sie es mir sicher sagen; dachte ich.
Die beiden kamen in die Küche, um sich ihr Frühstück zuzubereiten, aber von Felicia kam kein Wort und so war ich in Erwartung der Dinge, die da kommen würden, sitzen geblieben und hatte mich weiter der Zeitung gewidmet.
Zwischenzeitlich hatte ich Felicia und Janina im Flur tuscheln hören und als ich wenig später kurz aus der Küche raus bin, hatte Janina mich gebeten, nicht wieder zurück zu gehen, damit die beiden zusammen frühstücken könnten.
Das war der Zeitpunkt, an dem mir die ohnehin gespannte Hutschnur gerissen ist.
Bei unserem langen Gespräch Anfang November hatten wir noch vereinbart, mehr miteinander zu reden und jetzt musste Janina wieder herhalten, um mich aus der Küche zu schicken!
Einerseits war ich tief enttäuscht, weil Felicia damit nicht einfach zu mir gekommen war, andererseits war ich sauer auf Janina, weil sie die Botschafterin war, anstatt Felicia klarzumachen, dass sie es mir gefälligst selbst hätte sagen können.
Ich bin ausgerastet und war dabei so laut, dass mich auch Felicia und ihr Freund deutlich verstehen konnten.
„Wenn sie in Ruhe zusammen frühstücken wollen, sollen sie in ihr Zimmer gehen. Wenn sie gerne alleine in einer Küche frühstücken wollen, soll sie sich eine eigene Wohnung suchen.
Ich fühlte mich ohnehin schon nutzlos und jetzt war ich auch noch ein störender Faktor in unserem Haus.
„Entweder sie zieht aus oder ich, dann kannst Du Felicia´s Botschaften der Wand erzählen. Pass dann aber auf, dass Du nicht die Nächste wirst, die hier stört und herausgeekelt wird.“
Ich kann echt ein Arschloch sein. Auch wenn ich schon einen triftigen Grund hatte, sauer zu sein, aber so verletzend geworden zu sein, war echt nicht ok von mir. Im Nachhinein Asche auf mein Haupt.
Ich musste raus.
Weil unser Treffen an Weihnachten bei meiner Schwester flachgefallen war, ich meine Tante seit langem nicht mehr gesehen hatte und ihr ohnehin meine Texte zu lesen bringen wollte, sie hat keinen Rechner, hatte ich die damaligen 140 Seiten ausgedruckt und mich auf den Weg zu ihr gemacht.
Später war ich zwar ruhiger, aber immer noch stinksauer nach Hause gekommen, hatte mich vor den Fernseher geworfen und wollte einfach nur meine Ruhe haben.
Janina weiß, dass ich in der Stimmung einfach einen Tag brauche, bis man mit mir wieder vernünftig reden kann. Trotzdem hatte sie es versucht und war alles andere als freundlich dabei, sodass ich auch gleich wieder pampig wurde.
Nachdem sie mich endlich in Ruhe gelassen hatte, schlug etwas später auch noch Felicia im Wohnzimmer auf, um jetzt plötzlich mit mir reden zu wollen. Ich hatte sie mit den Worten, sich vom Acker machen und verpissen zu sollen, rausgeschmissen.
Schlimmer geht immer.
Ein paar Tage nach dem Eklat war ich, nachdem ich endlich am 07.01.2021 meine Bescheinigung von der onkologischen Praxis bekommen und meinen Reha-Antrag abgeschickt hatte, zu Kurt nach Karlsruhe gefahren und ein paar Tage dort geblieben.
Nicht nur ich hatte einfach eine Auszeit gebraucht, einen Tapetenwechsel, ein paar offene Ohren und ich musste Mal wirklich in mich gehen.
Einen Teil meiner Selbstachtung hatte ich schon auf dem Weg verloren, mit der inneren Ausrede, dass Kurt (selbst Raucher) keine Schuld treffen sollte, wenn ich wieder anfange und hatte mir schon unterwegs eine Schachtel Zigaretten gekauft und gleich eine angesteckt. Geholfen hatte sie natürlich nicht, auch nicht beruhigt.
Die Gespräche mit Kurt hatten uns beiden zwar gut getan wie immer, aber meine miese Stimmung konnten sie kaum aufhellen.
Tief im Loch scheint keine Sonne und mir wurde klar, dass ich ohne professionelle Hilfe kaum selbst herausklettern konnte.
Von Karlsruhe aus hatte ich Kontakt zu Weiterleben e. V. aufgenommen und konnte einen Gesprächstermin mit der Psychologin in der nächsten Woche vereinbaren. Es war Zeit für ein Rettungsseil bei meiner Gratwanderung, weil ich drohte abzustürzen.
Mir wurde zwar klar, dass ich völlig über die Stränge geschlagen hatte und eine Entschuldigung bei Janina und Felicia mehr als angebracht war, aber der Weg dahin war für mich ein Irrgarten aus dem ich so leicht keinen Ausweg erkennen konnte.
Kurt ist für sein Alter richtig sportlich, hat schon einige Marathonläufe hinter sich und macht jeden Morgen Yoga.
Weil ich mich nach der Chemotherapie und dem anschließenden vor mich hinleben ziemlich unfit fühlte, war ich auf die sagenhafte Idee gekommen, mitzumachen.
Es war wie ein körperlicher Offenbarungseid und ich hatte mich geschämt. Das sportlichste, was ich im letzten halben Jahr hinbekommen hatte, waren Spaziergänge. Einen zügigen über 10 Kilometer hatten wir zusammen gemacht. Wenigstens dabei hatte ich mich nicht blamiert.
Auf dem Heimweg, ich musste ja wieder zurück in mein eigenes Leben, hatte ich noch einen Umweg über Landau gemacht und Ella besucht. Eigentlich hatte ich sie nur abgeholt, weil ihre Mitbewohnerin Carola wegen Corona keinen Besuch haben wollte. Also waren wir zusammen auch ausgiebig spazieren gegangen und ich kenne jetzt den ehemaligen Truppenübungsplatz der Franzosen bei Landau in voller Länge.
Wieder zu Hause hing der Haussegen natürlich immer noch schief, auch wenn wir jeden Abend miteinander telefoniert hatten.
Abends hatte ich mich bei Alex gemeldet, weil ich seinen Anruf verpasst hatte. Ich hatte ihm von meinem Ausflug zu Kurt, auch warum ich da war und von meinem sportlichen Offenbarungseid erzählt. Er schlug vor, dass ich ihn besuchen kommen soll. Er würde jeden Morgen eine Stunde durch Wald und Wiesen spazieren und dabei ein paar Übungen machen, das würde den Kopf freimachen. Sein Vorteil als Selbständiger sich die Arbeits- bzw. Freizeit selbst einteilen zu können.
Weil ich außer meinem Zahnarzttermin ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, meine Lust, den Tag mit Felicia im Haus zu verbringen, bei null und mir eher nach einem Männergespräch zumute war, hatte ich mich also auf den Weg zu ihm gemacht.
Als wir nach meinem Zahnarzttermin ein Stück gelaufen und gerade im Wald angekommen waren, wurde mir klar, was er mit einem bisschen Sport gemeint hatte.
Station 1 waren Klimmzüge an einem Ast und mir war vorher schon klar, dass ich nicht einmal einen schaffen würde. Es folgten noch einige Stationen mit Liegestützen, Kniebeugen mit einem schwerem Stück Baumstamm, einem herumliegenden langen Ast als Hantel für Bi- und Trizeps, Rumpfbeugen an einem Ast und mehr.
Bei den meisten Übungen hatte ich kläglich versagt. Beim Klimmzug hing ich nur da, wie ein nasser Sack, ein paar Liegestützen gingen gerade so, Kniebeugen hatte ich ohne Gewicht gemacht und dabei Probleme mit dem Gleichgewicht, die Hantel war mir zu schwer und bei den Rumpfbeugen ging es mir fast so, wie bei den Klimmzügen. Noch mehr wie bei Kurt hatte mich meine körperliche Verfassung geschockt und trotz der wenigen Übungen, die ich hinbekommen hatte, war ich danach ziemlich fertig.
Geredet hatten wir natürlich auch und im Gegensatz zu Kurt bekam ich von Alex bei allem Verständnis auch mal Kritik zu hören.
Am nächsten Tag war ich bei uns im Waldthemenpfad (sehr lehrreich für Jung und Alt) spazieren und hatte mir meine eigenen Übungen an allerlei Gehölz und Gestein ausgedacht, um körperlich wieder fitter zu werden.
Seitdem war ich täglich bei Wind und Wetter unterwegs, bis ich mir einen bösen Muskelfaserriss im hinteren rechten Oberschenkel zugezogen hatte und etwas mehr als zwei Wochen pausieren musste. Ich hatte es beim Dehnen wohl etwas übertrieben, obwohl ich nach über einer halben Stunde wirklich nicht mehr kalt war.
Nachdem es kurz hintereinander drei Mal schmerzhaft, von der Mitte des Oberschenkels bis zur Kniekehle, gekracht hatte, dachte ich zuerst, ich würde mitten im Wald keinen Schritt mehr laufen können. Ganz langsam ging es nach ein paar Minuten aber doch und ich humpelte zurück zum Parkplatz.
Selbst Auto zu fahren wäre wirklich nicht gegangen. Janina hatte mich zum Glück abgeholt. Am Wochenende ging sie immer mit. Nach ihrem Kreuzbandabriss war sie auch noch ein gutes Stück von der Normalität entfernt und konnte wegen Corona nach wie vor nicht ins Fitnessstudio, sondern nur zum Physiotherapeuten. Nachdem wir im strömenden Regen am Parkplatz angekommen waren, hatte sie beschlossen, es an dem Samstag bleiben zu lassen und fuhr wieder nach Hause, um eine Stunde später, so lange brauchte ich für die ca. drei Kilometer, wieder zu kommen, um mich einzusammeln.
Der Haussegen hatte sich nach und nach wieder gerade richten lassen.
Reden hilft einfach. Entschuldigen auch.
Anstatt Vorwürfe zu machen, hatte ich einfach gesagt, was es bei mir für Gefühle ausgelöst hatte. Janina war dann im Internet noch auf Hinweise gestoßen, dass es wohl nicht so selten ist, dass Patienten wie ich nach einer Chemotherapie in eine depressive Phase geraten, wozu wohl auch Wutausbrüche gehören können.
Langsam aber sicher hatte ich angefangen, aus dem Loch zu klettern, ohne dauernd abzurutschen.
Die neue Tagesstruktur, täglich durch den Wald zu gehen und Sport zu treiben, hatte mir dabei sehr geholfen.
Auch ein paar Gespräche bei Weiterleben e. V. mit der Psychologin, ein langes Telefonat mit Goldkehlchen, die mir eine Gruppentherapie empfohlen hatte, eine erneute Selbstinventur, den Leitfaden dazu hatte ich noch aus der Hochgrat-Klinik, ein weiteres Treffen mit Kurt bei strahlendem Sonnenschein in Heidelberg und ein aufkommender Hauch von Selbstdisziplin hatten mir sehr dabei geholfen.
Das war auch gut so, denn schließlich wollte ich mich bei der anstehenden Reha mental und körperlich nicht blamieren.