2. Zyklus / 1. Woche
Mittwoch, 12.08.2020
Die Schonzeit ist vorbei, heute beginnt der zweite Zyklus. Wie beim ersten Mal, habe ich auch heute Nacht unruhig und wenig geschlafen. Das hat den Vorteil, dass ich die zweite Hälfte der heutigen Chemotherapie wieder verschlafen habe.
Wieder zu Hause geht es mir recht gut. Nebenwirkungen bis auf Hunger Fehlanzeige, nur körperlich bin ich ziemlich platt, als hätte ich den ganzen Tag schwer gearbeitet und somit verbringe ich den Tag mit essen und ausruhen.
Abends kommt Paula zu Besuch. Es ist an der Zeit, reinen Wein einzuschenken. Meine neuen Erscheinungsbilder sind ihr bei WhatsApp gleich aufgefallen, erst die Kurzhaarfrisur, jetzt die Glatze. Es ist mir wichtig, dass mir wohlgesonnene Menschen nicht irgendwie, sondern von mir persönlich erfahren, was mit mir los ist.
Da auch mein Bart angefangen hat, sich zu verabschieden und ich ansonsten auch manchmal nicht wirklich fit aussehe, kann und will ich niemandem, schon gar nicht meinem sozialen Umfeld, Lügengeschichten erzählen, die ohnehin auffliegen würden.
Wie ich anfangen soll, ist mir selbst nicht klar, aber es geht dann irgendwie. Paula ist geschockt, lässt sich aber von meinen guten Prognosen und meiner Einstellung beruhigen, zumindest vorerst.
Obwohl ich mir meine letzte Zigarette für nach dem Essen aufheben will, stecke ich sie mir doch vorher an und denke mir dabei, dass ich eigentlich zu träge bin, mir Nachschub zu kaufen. Selbst schuld, ich hätte sie mir ja verkneifen können oder verkneife ich mir das blöde rauchen endlich mal ganz?
Ich erwähne meine Gedanken erst mal nicht. Oft genug bin ich schon gescheitert. Mit dem Rauchen aufzuhören ist gar nicht so schwierig, schwer ist es, nicht wieder anzufangen.
Donnerstag, 13.08.2020
Zweiter Zyklus, zweiter Teil. Ich scheine weiterhin die chemische Keule einigermaßen gut zu vertragen.
Gestern habe ich mir keine Zigaretten mehr gekauft und auch vor der Chemotherapie fehlt mir die Zeit, das nachzuholen. Es macht mir momentan aber auch nichts aus.
Nachdem ich wieder zu Hause bin, überwiegt der Hunger und nicht die Nikotinsucht. Ob es an den Kortison-Tabletten oder an anderen Substanzen liegt, die heute wieder in meinen Körper geflossen sind, ist mir völlig egal.
Fakt ist, dass ich mich am liebsten zum Essen in den Kühlschrank setzen würde. Dauernd bin ich auf der Suche nach essbarem. Hunger auf Zigaretten habe ich eigenartigerweise nur ganz selten an diesem Tag und kann das problemlos übergehen. Janina freut sich.
Freitag 14.08.2020
Vorsichtshalber habe ich mir nichts vorgenommen. Obwohl ich außer schreiben nichts Großartiges mache, bin ich den ganzen Tag müde.
Noch vor dem 2ten Zyklus ist Janina schon aufgefallen, dass ich am linken Knöchel anfange, Wasser einzulagern. Jetzt, nachdem ich etwas mehr als eine Stunde vor dem Bildschirm gesessen habe, fällt es mir auch auf.
Mist, die Ästhetik versagt an dieser Stelle.
Am Montag hatte ich Dr. Rieger darauf angesprochen. Ich soll nichts unternehmen, um den Körper zu entwässern, sondern lediglich meinen Fuß hoch lagern und mit streichenden Bewegungen versuchen, das Wasser zum Körper hin zu verteilen.
Ansonsten geht es mir gut, ich habe nur das Gefühl, dass mein Geschmack sich verändert. Der letzte Kaffee war irgendwie sonderbar, aber essen könnte ich nach wie vor den ganzen Tag.
Samstag 15.08.2020
Tagsüber ein relativ normaler Samstag. Es geht mir körperlich etwas besser. Ich bin nicht schon am Vormittag erschöpft von nichts.
Leider verändert sich mein Geschmack, der Kaffee gestern war wohl in Ordnung. Der heutige schmeckt mir nämlich wieder so eigenartig. Janina meint, dass der Kaffee ganz normal schmeckt.
Ich teste über den Tag verteilt lauter Kleinigkeiten, der animalische Hunger der letzten Tage lässt aber nach. Geschmacksintensive Sachen, wie Oliven, Gurken, Käse oder Zwiebeln schmecken ganz normal, wenn die Intensität aber nachlässt, schmeckt alles ähnlich fad. Hoffentlich wird das nicht schlimmer.
Heute Abend wollen wir auf zwei Hochzeiten tanzen. Ich hatte das erst gar nicht für möglich gehalten und eine Party schweren Herzens abgesagt, bis ich von Marc darauf hingewiesen wurde, dass Jens auch in der ersten Band Bass spielt, die schon am späten Nachmittag anfängt. Glück im Freizeitstress.
Also erst mal ab an den Ortsausgang von Gronau, ein Weg, den man mal gefahren sein muss.
Schon sehr früh kommt ein Hinweisschild für Gronau, Sackgasse inbegriffen, mit dem Hinweis auf keine Wendemöglichkeit.
Nachdem man dieser Sackgasse über mehrere Kilometer in den Odenwald gefolgt ist, kommt erst mal eine Umleitung, bei der Google Maps aussteigt und die man wohl auf Feldwege geteert hat. Das Highlight ist eine Kuppe, an der man nur 20km/h fahren darf. Mehr wäre auch gefährlich, weil man sehr lange nicht sehen kann, ob einem Jemand entgegenkommt. Aus dem Alter, in dem man so was testet, bin ich seit geraumer Zeit draußen, aber ich denke, die Kuppe ist sprungfähig. Wenden war dann doch kein Problem, mit einem Sattelschlepper möchte ich allerdings nicht dort enden.
Jens und seine beiden Bands haben ein geiles Fest organisiert. Alle Bandmitglieder haben ein paar Leute eingeladen. Der Nachbar stellt sein Grundstück zur Verfügung, der Ortsladen verkauft Getränke und Würstchen, sie können endlich mal wieder vor Publikum spielen, wir können tanzen und niemand kommt sich zu nahe.
DISTANZTANZ ist das Zauberwort.
Marc und Kirsten habe ich für den nächsten Tag zum Grillen eingeladen, auch um ihnen reinen Wein einzuschenken. Mein dezimierter Bart fällt bei der Frisur sowieso auf und es gibt Menschen, denen möchte ich schon selbst sagen, was los ist, auch Paul und Emma.
Kirsten ist nicht fit, lässt sich entschuldigen und Marc sagt deshalb das Grillen ab. Ich mache mir Gedanken, wann wir die beiden wiedersehen werden und entschließe mich, es Marc und auch Paul und Emma zu sagen, warum es doch sehr schnell zur Glatze gekommen ist.
Wie auch bei anderen löst die Nachricht erst mal Entsetzen aus und wie auch bei anderen kommt es mir so vor, obwohl ich ja der Kranke bin, als müsse ich alle beruhigen, dass das doch gar nicht so schlimm ist, hohe Heilungschancen bestehen und erzähle von meiner Einstellung, meinem positiven Denken und meinem Aufenthalt in einer Box-Arena in der ich die Chemotherapie anfeuere, dem Krebs auf die Fresse und k. o. zu schlagen.
Der Freizeitstress fordert uns, wir wollen nicht im Dunkeln durch uns unbekannten Odenwald fahren und machen uns auf den Weg zu unserer ehemaligen Nachbarin Gabi, die auch ein Fest im kleinen Kreis mit Musik und Tanz feiert.
Außer Gabi und ihren Töchtern, die wir seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen haben, kennen wir niemanden. Ich finde die kleine Runde recht lustig und es kommt mir im ersten Augenblick so vor, als hätten die Meisten von ihnen den Odenwald noch nie verlassen.
Öko-Gabi zeigt uns ihr altes, teilsaniertes Bauernhaus, das sie ganz schnuckelig hinbekommen hat. Der DJ ist der neue, oder auch schon ältere neue, Freund. Der Rest sind wohl Arbeitskollegen und Kolleginnen.
Die geschätzte 150 Kilo Kollegin tanzt gar nicht schlecht und versucht, ihrer 100 Kilo Kollegin Rumba, Cha-Cha-Cha, Jive, Foxtrott und Disco-Fox beizubringen. Janina frotzelt, ich solle doch mal behilflich sein. Irgendwie ziehe ich immer die kräftigen Frauen an. Weil ich Bedenken habe, sie nicht mehr los zu werden, lehne ich dankend ab.
Grundlos wie sich herausstellt, denn bei dem Gewicht macht die Kondition nicht lange mit. Die 150 Kilo Tänzerin braucht eine Verschnaufpause und setzt sich auf eine Holzbank, die unter ihrem Gewicht zusammenbricht.
Sie liegt wie ein geprellter Frosch auf dem Rücken im Beet, alle lachen und sie wäre in dem Augenblick sicher gerne im Boden versunken.
Eigenartiger Weise habe ich nicht lachen können. Mir hat sie einfach nur leidgetan, wie sie sich geschämt hat, als ihr mir vereinten Kräften hochgeholfen wurde. Die Arme.
Ein netter Abend war es aber trotzdem und sie hat sich bald wieder erholt und weiter getanzt.
Nach zwei alkoholfreien Pils ist bei mir der Akku leer und wir fahren nach Hause. Gabi weiß es jetzt also auch und ich habe beschlossen, keine blöden Geschichten mehr zu erzählen, sondern bei der Wahrheit zu bleiben.
Sonntag, 16.08.2020
Ein tiefenentspannter, schmerzfreier Tag mit leckerem gegrillten Fisch am Abend.
Janina ist der Meinung, dass wir die Zeit, wenn es mir gut geht, wenigstens für einen kurzen Urlaub nutzen sollten. Ursprünglich wollten wir in diesem Jahr die Fahrräder mitnehmen und an die Mecklenburgische Seenplatte fahren und jede Nacht woanders übernachten.
Weil wegen Corona plötzlich viele die Idee haben, Urlaub in Deutschland zu machen, ist es schwer bis unmöglich oder unbezahlbar, Übernachtungsmöglichkeiten zu finden. Aus diesem Grund kommt die Idee hoch, ein Wohnmobil auszuleihen und damit an unser geplantes Ziel zu fahren.
Im Internet stoßen wir auf die Seite von Raul Tramper, wo man sich Wohnmobile von Privatleuten ausleihen kann. Von Alex bekommen wir den Tipp, bei Diego nachzufragen, welche Campingplätze zu empfehlen sind. Er war mit Frida in der Gegend campen und empfiehlt uns den Campingplatz "Zwei Seen" am Plauer See.
Über die Raul Tramper Seite nehmen wir per Mail Kontakt zu einer Sonja auf, die ein Wohnmobil zu vermieten hat.
Montag, 17.08.2020
Toll, Regenwetter, dabei wollte ich mich mit Cara am See in Zellhausen treffen. Ist aber nicht so schlimm, wir verschieben es auf Mittwoch und ich nutze die Zeit zum Schreiben.
Sonja mit dem Wohnmobil hat sich gemeldet und schlägt vor, dass wir am Samstag zu ihnen kommen, um uns das Wohnmobil anzusehen. Sie würden uns dann auch alles erklären. Wir sagen zu.
Montags ist normal Tanztag und viele Tanzverhinderte gehen anstatt in das Steinbruch-Theater auf die Tanzfläche eben in den dazugehörigen Biergarten. Die Musik ist auch ohne zu tanzen gut und außerdem habe ich vor, mich meinem Fressflash hinzugeben, weil es gute Schnitzel gibt. Insgesamt esse ich nicht mehr ununterbrochen, auf ein Schnitzel freue ich mich aber schon den ganzen Tag.
Meine Frisur findet natürlich gleich Beachtung. Ich befinde mich kurz in dem Dilemma, einerseits keine Lügengeschichten erzählen zu wollen, andererseits habe ich auch keine Lust, weniger guten Bekannten meine Krankengeschichte aufzutischen und mit einem Mal ist die Lösung da. Ich sage einfach, dass ich die Glatze wegen einer Chemotherapie habe und bitte gleichzeitig darum, keine weiteren Fragen zu stellen.
Das wird respektiert und funktioniert einwandfrei.
Anke treffe ich, die meine Glatze schon bei WhatsApp bewundert hat. Sie ist mit ihrem neuen Freund und einem Kumpel da, der mir wegen seinem Sarkasmus und spitzen Bemerkungen zu politischen Themen (Trump und ähnliche Kapazitäten) gleich sympathisch ist.
Die beiden passen zu Anke, mit der man sich stundenlang unterhalten kann, ohne ein sinnvolles Wort zu wechseln. Auch hier lasse ich die Katze aus dem Sack und lasse sogar Fragen zu, Anke kenne ich schon seit 20 Jahren.
Dienstag, 18.08.2020
Ich bin auf der Suche nach einem Therapeuten.
Trotz meiner positiven Einstellung ist es kein Pappenstiel, mit so einer Erkrankung und ihren Folgen mental fertig zu werden. Janina ist auch der Meinung, dass ich Unterstützung brauche.
Es gibt wohl Onkologen, die auch als Therapeuten arbeiten. Einen solchen zu finden, bei dem dann auch noch die Chemie passt und ein nicht prall gefüllter Terminkalender meine Therapie ermöglicht, ist fast schon, wie ein 6er im Lotto.
Bei der Krankenkasse erfahre ich, dass eine Trauma-Therapeutin, die Lilly mir rausgesucht hat, nur als Heilpraktiker agiert und von der Kasse werden Heilpraktiker grundsätzlich nicht bezahlt, sondern nur Psychologen.
Eine weitere in der Auswahl befindliche arbeitet nur auf Honorarbasis, also auch nichts für die Kasse, obwohl sie Psychologin ist.
Na toll, das habe ich mir schon fast gedacht. Ich werde also bei meinem Onkologen nachfragen, ob man mir nicht jemanden empfehlen kann.
Geschmack ist weiterhin bescheiden, ansonsten geht es mir aber gut. Meinen Heißhunger habe ich halbwegs im Griff.