1. Zyklus / 3. Woche
Mittwoch, 05.08.2020
Ich habe fast alles geschafft, der kleine Auftrag von gestern ist aber nur fast fertig geworden.
Nach Feierabend habe ich noch einen Kumpel besucht und deshalb vergessen, dass ich noch Passbilder machen lassen wollte.
Mein Personalausweis ist im Juli abgelaufen und in Corona Zeiten muss ich mir einen Termin geben lassen, um einen neuen zu beantragen. Ich muss das also morgen früh, bevor wir unsere Tour starten, unbedingt noch erledigen, weil ich das dumpfe Gefühl nicht loswerde, dass ich nach unserem Kurzurlaub keine oder nur noch wenige Haare auf dem Kopf haben werde und der Termin ist erst am nächsten Dienstag.
Ein Bild mit Glatze will ich nicht im Ausweis haben und ich will auch nicht aussehen, wie ein gerupftes Huhn.
Donnerstag, 06.08.2020
Alex kommt gegen neun Uhr zum Frühstück. Vorher gehe ich noch kurz ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Im Vorbeigehen will ich schnell das mit den Passbildern erledigen. Pustekuchen, sie öffnen erst um neun Uhr, ich muss es also auf nach dem Frühstück verschieben.
Für mich war das Frühstück lecker, für Vegetarier aber eher ungeeignet. In Gedanken habe ich das angebratene Dörrfleisch mit Charlotten, was nicht so schlimm gewesen wäre, und Spiegeleiern vereint. Das Ganze nach dem braten zu trennen, war unmöglich geworden und so habe ich den armen Kerl zum Fleischessen gezwungen. Er hatte halt echt Hunger.
Etwas verspätet, ich musste ja noch die Bilder machen lassen, sind wir aufgebrochen.
Auf dem Weg zur Autobahn will ich die Musik anmachen, aber das geht noch nicht, weil Alex immer dann, wenn er verreist, erst auf der Autobahn die Musik mit einem ganz bestimmten Opener starten will. Ich bin gespannt.
AC/DC High Voltage erstes Lied "It´s a long way to the top (if you wanna rock and roll)" und die Kenner wissen, wie das auf der Autobahn angefangen hat.
Ridin on the highway, goin to a show… Gutes Intro!
Wir haben dann das ganze Album gehört. Ok, nur fast. Das totgespielte TNT haben wir übersprungen. Danach war Straßburg gar nicht mehr so weit.
Um die Mittagszeit sind wir angekommen, nachdem wir auf der empfohlenen Umleitungsstrecke in den vollen Genuss unserer Straßburg-Revival-Tour gekommen sind. Das Navi hat uns durch Käffer gelotst, weil auf der Autobahn Stau war, durch die wir vor 36 Jahren mit dem Mofa (Puch X30) nach Straßburg gefahren sind.
In einem südlichen Stadtteil haben wir einen kostenlosen Parkplatz in der Nähe des Rhone- / Rhein- Kanals gefunden. Die Tour, durch und um Straßburg, die wir uns aus dem Internet herausgesucht hatten, führt entlang vieler Kanäle und so hatten wir einen guten Start- Endpunkt gefunden.
Vor 36 Jahren ist mir gar nicht so aufgefallen, wie schön Straßburg ist. Unsere Kanaltour hat uns am Europaparlament vorbei, durch die Orangerie (sehr schöner, gepflegter Park) und schöne Wohnviertel in die Innenstadt geführt. Welche Schönheit das Straßburger Münster (Cathédrale Notre Dame de Strasbourg) ist, das ist mir vor 36 Jahren auch entgangen und ich dachte immer, es gibt nur ein Notre Dame in Paris.
Egal, auf jeden Fall ist das Äußere, von innen haben wir es uns, weil ich ja schon zur Corona Risikogruppe gehöre, wegen der vielen in der Schlange stehenden Menschen, nicht angesehen, ein Meisterwerk der Steinmetzkunst. Wahnsinn.
Ansonsten ist der Rest der Innenstadt auch super schön, den haben unsere lieben Vorfahren im Krieg wohl nicht zerstört, aber es wimmelt trotz Corona Zeiten doch vor Menschen, weshalb wir, weg von den Touristenpunkten, ein ruhiges Café für eine Pause genutzt haben.
Affenhitze, über 30° und wir sind froh, dass der Rest der Strecke aus der Innenstadt heraus entlang mehrerer Kanäle viel unter Bäumen im Schatten verläuft.
Die über 30 km habe ich problemlos geschafft, ohne Nebenwirkungen. Jetzt fehlt uns nur noch ein Bild mit dem Ortsschild „Strasbourg“ und eins der Jugendherberge, in der wir damals waren.
Wir waren damals zu dritt und hatten vor Hagenau eine Panne wegen dem zerbröselten Hinterradlager von Herbert, was damals unsere Ankunft um 2 Tage verzögert hatte.
Eben diesem Herbert wollen wir Bilder von uns mit den Fahrrädern, dem Ortsschild von Strasbourg und der Jugendherberge, natürlich mit sarkastischem Humor, es lieber ohne ihn zu machen, bevor wir wieder mit einer Panne in der Mitte von nirgendwo eine Zwangspause einlegen müssen, schicken.
Ich bin sehr gespannt ob und wenn wie, er reagiert. Beide haben wir nichts mehr mit ihm zu tun, also braucht er auch nicht zu wissen, dass wir mit dem Auto da sind.
Die Jugendherberge (Auberge de Jeunesse) haben wir zwar gefunden, sie ist aber wegen Corona geschlossen. Reicht aber für ein Foto. Das Ortsschild von Strasbourg ist schwieriger, weil wir es immer nur von hinten sehen, also ab über den Rhein nach Kehl, Kehrtwende und zurück über die Grenze, um kurz anzuhalten und ein Bild von uns vor dem Ortsschild zu machen.
Erledigt, wir treten den Weg nach Karlsruhe zu Kurt an, der für 19 Uhr einen Tisch für uns drei reserviert hat. Ich bin sehr gespannt, ob die beiden miteinander harmonieren, weil beide gut bzw. sehr gut Gitarre spielen und Kurt hat einen Gitarrenhimmel zu Hause, an dem Alex sich austoben kann.
Kurz die beiden miteinander bekannt machen, Gepäck rein und ab in einen schönen Biergarten zum Essen. Die beiden werden miteinander warm. Wir haben auch gemeinsamen Gesprächsstoff. Mit Kurt habe ich 6 Wochen in einem Zimmer in der Hochgratklinik zusammengewohnt und Alex kennt den Laden. Wen es interessiert, kann Hochgratklinik einfach mal googeln.
Als wir zurück sind, kommen die Gitarren zum Einsatz und Alex probiert tatsächlich die meisten aus. Wir jammen (ein bisschen singen kann ich, solange ich im Ton nicht so weit hoch oder runter muss, auch) bis nachts um eins und sind dann aber auch platt. Die Hitze hat das Ihrige dazu beigetragen.
Freitag, 07.08.2020
Hey, hey, my, my (Neil Young)
Ein schöner Tag zum Leben!
Auch wenn der Haarausfall kräftig zugelegt hat, scheiß drauf, die wachsen auch wieder. Alex hat mir jede Menge Wachs in die Haare geschmiert. Nach seiner Theorie verliere ich heute keine Haare mehr; sie sind ja alle gut festgeklebt.
Danach haben wir zu dritt ein gutes Männerfrühstück genossen. Wegen der großen Hitze, mein Handy sagt gerade 31° in Karlsruhe, haben wir unsere Radtour gekürzt und sind gleich nach dem Frühstück losgefahren.
Direkter Weg an das Karlsruher Schloss.
Eine super schöne Parkanlagen rund um das Schloss, mit dem Fahrrad oder zu Fuß echt gut zu empfehlen.
Wir haben unsere Fahrräder abgestellt und haben uns E-Scooter ausgeliehen. Damit sind wir dann kreuz und quer eine halbe Stunde durch den Park gefegt, soweit man das so nennen kann. Für unseren Geschmack sind die Dinger zu lahm. Bei 20 Sachen, gerade wenn es anfängt, Spaß zu machen, ist der Arsch ab. Wir wollen irgendwann mal kucken, ob es nicht auch welche zum Ausleihen gibt, die wenigstens mal 40 fahren.
Es ist nicht nur eine arg verminderte Super-Radtour, es ist auch Urlaub. Raus aus dem Park haben wir es uns gut gehen lassen und lecker geschlemmt, dazu selbst gemachte Limo Ingwer-Rhabarber für meinen Geschmack, aber auch die von Alex waren lecker.
Wegen der Hitze sind wir zurück zu Kurt geflüchtet. Ich liege im Garten und schreibe, die beiden anderen spielen Gitarre. Als ich mal aus der Hitze flüchten muss, habe ich ein Lied zu der Musik der beiden ausgiebig getanzt. Es war total schön, von zwei guten Freunden Live-Musik zu hören und dazu zu tanzen.
Hey, hey, my, my!
Das Leben kann echt schön sein, auch mit Krebs!
Nach der großen Hitze, heute waren es 38°, sind wir noch einmal in die Innenstadt geradelt; der Hunger war schuld. Wir haben eigentlich keine schlechte Pizza, mal anders, mit einem richtig dicken Boden, gegessen, der uns, als wir wieder zurück waren, schwer im Magen lag.
Wir wissen jetzt, wie sich der Wolf bei Rotkäppchen nach den Steinen gefühlt haben muss.
Musik machen hilft.
Wir sitzen schön draußen im Garten. Als Kurt wieder von einer Einladung, die er wegen uns nicht ausschlagen wollte oder konnte, zurück kommt, haben wir eine genauso geile Zeit verbracht, wie am Mittag. Später sind wir wegen den Nachbarn nach drinnen gegangen.
Unsere Musikgeschmäcker sind nicht kongruent, aber sehr kompatibel. Die beiden haben viele Sachen aus den 60er bis 80er Jahren gespielt, aber vereinzelt auch noch älteres oder aktuelleres. Kurt ist ca. 10 Jahre älter und hat dementsprechend Lieder ausgepackt.
Er hat halt schon richtig Musik gehört, als wir uns noch Kinderschallplatten reingezogen haben.
Außer Neil Young gab´s auch noch Crosby, Stills und Nash, viel Beatles, Stones, Queen, Tom Petty u. v. m. und ein paar der Stücke, die Kurt gespielt hat, kannten Alex und ich weder den Titel, noch den Künstler.
Es waren aber richtig gute Sachen dabei, für mich unmöglich zu singen, weil ich weder Akkorde noch Noten lesen kann. Alex hat es da besser. Er hat sich höchstens die Akkorde angesehen und die erste Strophe und den Refrain angehört, bis er mit eingesetzt und manchmal ein kreatives Spiel mit der Melodie getrieben hat.
Er kann´s halt.
Wegen der warmen Tropennacht habe ich beschlossen, im Garten auf der Liege zu schlafen, bis ich wach werde. Irgendwann nach 22 Uhr, bevor wir nach drinnen gegangen sind, hat das Thermometer noch 28° angezeigt und drinnen war es noch wärmer. Ein guter Grund im Freien zu schlafen. Erst gegen 4 Uhr bin ich nach drinnen umgesiedelt.
Samstag, 08.08.2020
Meistens bin ich zuerst wach und heute weiß ich auch, wie die Kaffeemaschine angeht, wenn ich jetzt noch den blöden Kaffeesatz rauskriegen würde…
Erst mal duschen ohne die Haare zu waschen und schon gar nicht zu kämmen, denn da lösen sich bei jeder Berührung welche. Ansonsten hat der Haarwachs eine weitere Nacht gehalten.
Wir verbringen einen lockeren morgen mit Frühstück, jammen, und quatschen, bis Kurt sich startklar machen muss. Wir packen auch unsere Fahrräder wieder ins Auto, unsere restlichen Sachen zusammen und räumen ein bisschen auf, wie sich das gehört.
Bis wir heute bei Ella aufschlagen können, dauert noch ein paar Stündchen. Ihr Vorschlag mit einem See bei ihr in der Nähe haben wir erst mal nach hinten verschoben, weil wir auf dem Weg noch andere entdeckt haben, die wir versuchen wollen.
Bei weit über 30° und strahlendem Sonnenschein kann es in Corona Zeiten schwierig werden, möglichst einen Schattenplatz an jeglichem Gewässer zu bekommen.
Nach einer kleinen Irrfahrt zu einem Getränkemarkt, wir waren in einem solchen Musik- und Gesprächsflash unterwegs, dass wir trotz Navi, aber wegen der Musik ohne Ton, mehrmals die richtige Ausfahrt verpasst haben, sind wir, nachdem wir uns endlich mit Getränken versorgt hatten, irgendwo nördlich von Karlsruhe an einem Pirat Beach angekommen.
Verblüffender Weise ist alles dufte an dem See. Schön im Grünen gelegen mit Sandstrand, genug Schatten, nicht überlaufen und sauberen Toiletten lädt der See zum Bleiben und abkühlen ein. Glückstreffer!
Beim Schwimmen bin ich mutig und tauche mit meinem Wachshelm auf dem Kopf ab und trotzdem ohne Glatze wieder auf. Es gilt weiterhin die Regel, überflüssige Berührungen zu vermeiden, aber Wasser alleine kann dieser Konstruktion nichts anhaben.Ich lasse sie einfach trocknen.
Pirat Beach, 36°, strahlender Sonnenschein nach Tauchgang, der Wachs hält.
Haha, früher war das doch Werbung für 3 Wetter Taft. Mein Zeug ist für Chemotherapie-Patienten und andere Menschen mit Haarausfall bestens zur Verzögerung geeignet. Vielleicht sollte ich mal Kontakt aufnehmen und Werbung für das Zeug machen.
Nachdem wir, auch wegen der kurzen Nächte zuvor, glaube ich beide die Augen von innen gepflegt haben, machen wir uns auf den Weg.
Unterwegs haben wir Ella ausgeredet, sich wegen uns Umstände zu machen. Sie wollte für uns kochen.
Wir haben sie kurzerhand zum Essen in Landau oder Umland eingeladen, aber irgendwie ist daraus wohl ein Missverständnis entstanden. Jedenfalls hat Ella gefragt, ob Pizza für uns ok wäre und einen Dönerladen vorgeschlagen, bei dem es auch, wegen ihr und Alex, vegetarisches Essen gibt.
Danach wollten wir mit den Rädern damit zu einem nahen See fahren. In weiser Voraussicht habe ich mir lieber einen Salat bestellt, der konnte nur etwas über 30° warm werden.
Ganz so warm wurde der Salat dann doch nicht, die Pizzen der beiden hatten den halbstündigen Fahrtwind auf Ellas Gepäckträger wohl schlechter vertragen und mussten kalt schmecken. So viel zum Essen in Landau und Umland.
Der See ist aber klasse, der Abend dort auch und der Rückweg ist lustig.
Ella hat zwar, im Gegensatz zu Alex und mir, vorne und hinten Licht an ihrem Fahrrad und, welch Seltenheit, noch einen Dynamo, der so spärlich Strom liefert, dass wir beschließen, sie in die Mitte zu nehmen, damit sie nicht über den Haufen gefahren wird. Ich habe ein vernünftiges Rücklicht und Alex eine helle Lampe, das geht auch.
Es ist trotzdem ein lustiger Abend, wir machen es uns bei alkoholfreiem Sekt (Paul) auf dem Balkon gemütlich.
Alex legt sich früher ab. Ich kann das gut verstehen. Ella und ich haben uns viel zu erzählen und die Geschichten über meine Krankheit kennt er schon zur Genüge, sie will es aber genauer wissen und hat dazu noch ihren Pfälzer Dialekt, an den man sich erstmal gewöhnen muss.
An einem Abend wird das für Hessen nichts, vielleicht hat sich Alex auch deshalb zurückgezogen. Ich hatte ja schon 6 Wochen, einen Besuch im letzten Jahr und einige Telefonate Zeit, dieses Pfälzer Sprachenergiebündel kennen zu lernen und wusste, was auf mich zukommt.
Alex sagt am nächsten Morgen zu mir, er habe sich zum Ende gefühlt, wie bei einem Duell zwischen Hessi James und einem Pfälzer Wälzer. Lustiger Vergleich.
Es ist nach wie vor Hochsommer, deshalb schlafe ich auf dem Balkon, nachdem wir dort noch bis gegen 3 Uhr gesessen und geredet haben.
Sonntag, 09.08.2020
Alex weckt mich am nächsten Tag mit my, my, hey, hey Gesang, als er das Haus verlässt, aber das habe ich erst später bemerkt, als ich ihn in der Wohnung nicht gefunden habe. Mein Schlafplatz auf dem Balkon ist für die Uhr- und Jahreszeit ungeeignet, um noch länger liegen zu bleiben. Die Sonne scheint schon wieder in Strömen und Schatten ist mal wieder Mangelware. In der Küche klappert es und ich lerne Ellas hübsche Mitbewohnerin Carola kennen.
Schwitzend gehe ich erst mal duschen und bin von meiner Frisur alles andere als angetan. Haare waschen wäre schon mehr als angebracht und ich kann diesen Haarwachshelm langsam nicht mehr sehen. Immerhin hält er noch einigermaßen, auch wenn sich bei Berührung immer mehr Haare problemlos entfernen lassen. Eigenartiger Weise finde ich auf dem Kopfkissen fast keine. Ergo, ich sehe einfach nicht in den Spiegel und lasse, damit ich nur die unvermeidlichen Haare verliere, das Waschen dieser wieder sein. Bis ich heute Nachmittag wieder zu Hause bin, muss das eben noch so halten. Nicht mehr schön, aber selten.
Frisch geduscht habe ich das Gefühl, Carola erst mal meinen Kleisterkopf rechtfertigen zu müssen, aber Ella hat sie über meinen Gesundheitszustand informiert und so ist es nur kurz ein Thema.
Bei leckerem Kaffee, den sie mir kredenzt, kommen wir ins Gespräch. Meine Einstellung und mein positives Denken im Umgang mit meiner Krebserkrankung scheinen bei ihr Eindruck zu hinterlassen und ich denke, dass das schon bei mehreren Menschen so war. Ich sehe ja auch nicht ein, mich von der Krankheit fertig machen zu lassen. Schon gar nicht bei Heilungschancen von über 90%!
Wenn ich aber ehrlich bin, habe ich doch einfach Angst, das wird mir in diesem Augenblick gerade mal wieder bewusst, aber das muss ich ja keinem erzählen. Schön ist mal wieder, dass, wenn ich darum Bitte, sich das Gesprächsthema schnell von Krankheiten in eine andere Richtung entwickelt.
Irgendwann meldet sich Alex telefonisch. Er war in einem Park in der Nähe spazieren (und meditieren? Ich habe gar nicht gefragt) und fragt nach, wie viele Brötchen er mitbringen soll.
Ella hat sich mittlerweile auch von ihrem Hochbett zu uns herabgelassen und es wird ein geselliges Frühstück mit den beiden Küken, die vom Alter her fast unsere Töchter sein könnten.
Einer Freundin haben die beiden und andere ein Geburtstagsgeschenk gemacht, dass heute bei der Hitze eingelöst werden soll, weil sie sonst wohl terminlich nicht alle unter einen Hut bringen. Sie wollen ihren Garten vom Unkraut befreien, Arbeitseinsatz als Geschenk also. Finde ich gar keine so schlechte Idee.
Carola fährt mit dem Auto vor und wir schwingen uns zu dritt auf die Räder nach Annweiler. Es ist eine schöne flache Strecke an der Queich entlang mit vielen Bäumen und entsprechend Schatten. In Annweiler angekommen ist es an der Zeit, sich auch von Ella zu verabschieden, schade, wir hatten irgendwie zu wenig Zeit.
Freizeit ist in Ihrem Job ein echtes Problem. Sie arbeitet meist nachts in irgendeinem Wald in Deutschland, momentan irgendwo an der Mosel, um Fledermausbestände wegen irgendwelcher in Planung befindlicher Baumaßnahmen zu zählen. Entsprechend schwer ist es dann für sie, alle gewünschten Freizeitaktivitäten und sozialen Kontakte am Wochenende unter zu bringen. Deshalb war sie gestern auch erst spät am Nachmittag zu erreichen.
Nach einem leckeren Eiscafé haben wir den Rückweg angetreten und dabei in einem schönen Biergarten im Park in Landau es uns noch ein letztes Mal auf unserer Straßburg-Revival-Tour gut gehen lassen.
All die Gespräche in diesem Kurzurlaub haben mir richtig gutgetan, ob mit Alex, Kurt, Ella oder auch Carola, obwohl ich sie gerade erst kennengelernt habe.
Am besten waren aber die Männergespräche, was mich doch sehr an die Männergruppe in der Hochgrat-Klinik erinnert hat. Hoffentlich kriegen wir uns drei noch einmal in diesem Sommer unter einen Hut. Die geile Zeit schreit nach Wiederholung.
Wir sind bei mir zu Hause angekommen und ich bin irgendwie glücklich.
Über unseren Kurzurlaub, der ja eigentlich eine große Fahrradtour werden sollte, darüber, dass ich alle Kilometer auf dem Rad ohne Beeinträchtigung geschafft habe, von den Zwischenmenschlichen Begegnungen, die ich in den letzten Tagen erlebt habe, von den vielen Kleinigkeiten über die ich mich dank meinem positiven Denken erfreuen kann und vor allem weil ich Janina wieder in den Arm nehmen kann.
Heute früh, als ich auf dem Balkon von Ella wach geworden bin, habe ich sie richtig vermisst und es wäre schön gewesen, wenn sie neben mir gelegen hätte.
Es kommt der Augenblick der Wahrheit, was meine Frisur betrifft. Alex hat sich bereit erklärt, mir den Kopf zu rasieren. Mal sehen, was nach kämmen und waschen passiert…
Ok, nach dem kämmen mit fast verstopftem Klo sind die Haare gefühlt um die Hälfte dezimiert. Nach dem duschen, natürlich mit verstopftem Abfluss, hat sich auch der Rest bis auf einen unmöglich aussehenden dünnen Flaum verabschiedet und es ist klar, dass jetzt an einer Glatze wirklich kein Weg und kein Wachs mehr vorbeiführt.
Mit dem Ergebnis kann ich sogar leben – ein Charakterkopf braucht keine Haare, habe ich mir von netten Menschen sagen lassen und es macht mir nur etwas aus, wenn ich nicht daran denke und von meinem kahlköpfigen Spiegelbild überrascht werde.
Montag, 10.08.2020
8.40 Uhr und ich habe erst mal einen Termin beim Onkologen. Ich muss einen Fragebogen ausfüllen, wie es mir geht und was die Nebenwirkungen machen, Blut wird mir abgenommen und ich habe ein Arztgespräch mit Dr. Rieger, den ich zum ersten Mal sehe. Bei ihm bin ich heute, weil mein Arzt Herr Dingeldein seinen sicher wohlverdienten Urlaub angetreten hat.
Er sensibilisiert mich, damit ich mich bei wieder auftretendem Fieber nicht einfach selbst mit Paracetamol medikamentiere ohne mich zu melden. Er macht mir unmissverständlich klar, dass ich dabei mein Leben ernsthaft riskiere.
Ok, die Warnung ist angekommen. Ich bin aber auch bis jetzt ein braver Musterpatient.
Janina hat noch einen Tag Urlaub. Wir fahren mittags an meinen geliebten Heimatsee und bekommen sogar noch einen Schattenplatz. Den Kopf haben wir mit 30er Lichtschutzfaktor eingecremt. Es ist ein eigenartiges Gefühl, mit Glatze in der Sonne zu sitzen, wo ich über 30 Jahre mit langen Haaren war.
Ein ehemaliger Chef Alfons läuft an mir vorbei, erkennt mich mit meiner neuen Frisur nicht und ich spreche ihn an. An meiner Stimme erkennt mich sofort.
Vom finanziellen abgesehen war er der beste Chef, den ich in meinem Berufsleben je hatte. Eine natürliche Respektsperson, die es nicht nötig hat, solchen einzufordern. Der Mann überzeugt mit Argumenten und einer offenen Weltanschauung. Ein fairer Gesprächspartner bei dem es mir schwerfällt, auf seine Frage, wie es mir geht, irgendwelchen Humbug von mir zu geben und ich antworte offen: „Für meinen Gesundheitszustand sehr gut.“
Was hätte ich auch Oberflächliches sagen sollen? Mein Kopf mit weißer Haut und sonnengebräuntem Gesicht fällt natürlich auf und auf den zweiten Blick kann man den eingepflanzten Port auch nur schwer übersehen. Die Katze ist aus dem Sack und ich erzähle Alfons, wie es um mich steht und wie ich damit umgehe. Meine Einstellung und mein positives Denken lässt ein leichtes Lächeln in seinem Gesicht erscheinen.
Er hat nicht nur mich dazu gebracht, sondern wir waren vor über 20 Jahren mit seiner gesamten Belegschaft auf einem Seminar über positives Denken, Gelassenheit und Motivation im Arbeitsleben. Er scheint sich zu freuen, dass das bei mir doch auf einigermaßen fruchtbaren Boden gefallen zu sein scheint, zumindest macht seine Mimik den Eindruck auf mich.
Später, auf dem Weg zur Mülltonne, komme ich an seinem Platz vorbei und sehe, wie der ewige Tauben- und Hühnerzüchter in einer Zeitschrift über Federvieh blättert.
Darüber kommen wir erneut ins Gespräch, reden über Gott und die Welt, Politik, dumme Rechte, die der Meinung sind, Seligenstadt sei bunt genug und ihm vorwerfen, Kriegsflüchtlingen den Einstieg in das Arbeitsleben zu ermöglichen, obwohl es doch genug arbeitslose Deutsche gebe, gemeinsame Bekannte und vieles mehr, bis ich von Janina, die inzwischen noch einmal schwimmen war, daran erinnert werde, dass wir uns vor 10 Minuten mit Alex verabredet haben.
Sogar der durchorganisierte Alfons hat die Zeit vergessen. Er muss noch Werksunterricht halten.
Dienstag, 11.08.2020
Es ist an der Zeit, mein Tagebuch auf einen neueren Stand zu bringen. Ich habe bemerkt, dass es gar nicht so einfach ist, jeden Tag zu schreiben und bin dementsprechend eine Woche im Rückstand.
Zum Glück habe ich von Kurt Handschriftliches mitgebracht und kann das ein oder andere von WhatsApp Nachrichten ableiten. Mein Erinnerungsvermögen leidet zum Glück auch nicht unter Nebenwirkungen der Chemotherapie.
Ich sitze fast den ganzen Tag vor dem Bildschirm und schreibe. Die Fülle an Gedanken, die mir durch den Kopf gehen und die Menge Text, die sich daraus ergibt, habe ich wirklich unterschätzt.