Schneebogen
In den nächsten zwei Wochen hatte der April seinem Ruf, zu machen was er will, alle Ehre erwiesen.
Obwohl es permanent, bis auf wenige Nächte, taute, lagen teilweise bis zu 20 cm Schnee, weil von oben immer wieder Nachschub kam. Ohne die Schmelztemperaturen wären es sicher 50 cm geworden. Wenn es nicht schneite, regnete es oft, aber es gab auch trockene und einige sonnige Momente.
Ich musste an Werder Bremen denken, grün, weiß, grün, weiß… und als es Mal wieder schneite und gleichzeitig die Sonne schien, blickte ich in den Himmel.
Schneefall bei Sonnenschein hatte ich als Flachlandtiroler aus dem Rhein-Main-Gebiet noch nicht erlebt und ich musste enttäuscht feststellen, dass es keine Schneebogen gibt.
Flocken sind im Gegensatz zu Tropfen wohl einfach nicht dazu geeignet, das Licht entsprechend zu brechen, schade. Wenn schon kein Schneebogen, hätte wenigstens irgendein optischer Effekt auftreten können, um den teilweise tristen Alltag zu versüßen.
Als ich im Raucherpavillon sagte, dass ich einen Schneebogen vermisse, war das Gelächter groß und ein paar hatten sich auf die Suche danach gemacht. Nicht erscheinende Schneebögen wurde noch öfter Thema gepflegter, sinnloser Gespräche.
Überhaupt wurde viel gelacht. Wenn ein paar Menschen aufeinandertreffen, ist immer ein Clown dabei. Ich bin manchmal selbst einer und im Raucherpavillon gab es oft mehrere, über deren Sprüche wir uns kaputtgelacht hatten. Tommy war so einer und es war meistens lustig, erst recht, wenn wir uns gegenseitig hochgeschaukelt hatten. Man konnte aber auch ernsthafte Gespräche mit ihm führen.
An Radtouren war bei dem Wetter nicht zu denken. Ich war auch Kleidungsmäßig nicht entsprechend ausgerüstet. Nicht einmal Mützen hatte ich dabei, dafür aber drei kurze Hosen, die ich unbenutzt wieder mit nach Hause gebracht hatte.
Wie immer, wenn ich verreise, irgendetwas bleibt immer zu Hause liegen. Dieses Mal waren es die beiden Bücher, die ich mitnehmen und lesen wollte. Außerdem war der Kaffee wirklich bescheiden. Die Cafeteria war auch nicht immer offen, wenn mir danach war, einmal einen guten Kaffee zu trinken, außerdem war sie mir als Dauerzustand auch zu teuer.
Janina schickte mir ein Notfallpacket, gefüllt mit meinen Büchern, Mützen, Kaffee und unserer French Press Kaffeemaschine. Bis meine Mützen da waren, hatte ich sie aber schon mehrfach schmerzlich vermisst, erstmals gleich nach Ostern.
Früh morgens hatte ich gleich nach einem erneuten Corona-Test Atmungstherapie im Freien. Weil ich mich dabei auch bewegen musste, hatte ich bewusst keine Jacke angezogen, die mich gestört hätte. Kaum angefangen, begann es zu schneien, aber richtig. Ich dachte daran, dass Frau Holle wohl das Kissen kaputt gegangen sein musste, so dicht wurde der Schneefall. Dazu kam noch ein stürmischer Wind, der mir den Schnee ins rechte Ohr blies.
Die eigentliche Atemübung war, nicht am Schnee zu ersticken. Irgendwann hatte der Therapeut ein Einsehen. Wie Schneemänner aussehend kamen wir wieder nach drinnen. Später hatte mir Gabrietta ein Bild von mir im Schneesturm mit der sarkastischen Frage, ob es draußen schön gewesen sei, geschickt, dass sie spontan gemacht hatte, nachdem sie unsere Gruppe im dichten Schneetreiben entdeckte.
Bevor mein Paket, das Janina an diesem Tag abschickte, ankam, hatte es mich noch einmal erwischt, als ich zu Fuß an der 1,5 km entfernten Tankstelle Zigaretten holte. Auf dem Rückweg mitten im Feld hatte ich Mühe, den Weg noch zu erkennen, weil mir der Schnee ins Gesicht blies. Sogar meine nach der Chemotherapie wieder voll anwesenden Augenbrauen waren voller Schnee. Am Raucherpavillon angekommen, durfte ich mir anhören, auszusehen wie ein Yeti.
Auch mein Lesestoff fehlte mir. Von Liane hatte ich zum Geburtstag ein Buch geschenkt bekommen, das ich mir extra für die Reha aufgehoben und noch nicht gelesen hatte. Ein Buch von Florian Sitzmann, der nach einer unfallbedingten Amputation beider Beine dem Leben diese machte.
Der halbe Mann: Dem Leben Beine machen. Nachdem ich es gelesen hatte, kann ich sagen, dass es sehr zu empfehlen ist. Sitzmann hieß er übrigens schon, als er noch Beine hatte.
www.dersitzmann.de
Wetterbedingt blieben als Freizeitbeschäftigung außer lesen vorerst nur Spaziergänge im Schnee, Schneematsch oder Matsch, die begehrte Muckibude und Badminton in der Turnhalle.
Zu meinem Glück hatte sich eine Gruppe von netten Leuten gefunden, die gerne Badminton spielten und dafür sorgten, dass ich immer mit auf der Liste eingetragen wurde. Immerhin hatte ich es so geschafft, während meiner drei Wochen Aufenthalt im Rehazentrum Oberharz an zehn Abenden dabei zu sein. Außerdem war ich, außer zu den verordneten MTT-Terminen, noch an fünf Abenden in der Muckibude.
Ich war also durchgängig sportlich. MTT, Ergometer, Wassergymnastik, MBOR-Arbeitstraining (arbeitstypische Übungen in einer kleineren Muckibude), Sportmotorik, Wirbelsäulengymnastik, Walken, Tai-Chi Qi Gong und therapeutisches Tanzen waren mein Sportprogramm.
Außer Sport gab es auch einige sehr interessante Vorträge über Krebs allgemein, Lymphome und Blutkrebs, Fatigue, Ernährungsberatungen, Leben mit und nach Krebs und Raucherentwöhnung.
Soziale Themen wie Altersvorsorge, Schwerbehinderung, berufliches Stressmanagement und wie es nach der Reha weitergeht, wurden als medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation ebenso angeboten. Auch ein einstündiges psychotherapeutisches Gespräch war wöchentlich für mich vorgesehen.
Nach dem ersten Termin bei einer schreibfleißigen Psychologin, die sich permanent Notizen machte, während ich meine Situation schilderte, war sie, wie die Therapeutin in Darmstadt zuvor, der Meinung, dass ich auf einem guten Weg sei. Einen weiteren Termin hielt sie nicht für zwingend notwendig. Wir einigten uns darauf, einen weiteren in einer Woche zu machen, um zu sehen, wie sich mein Befinden entwickeln würde.
Eine Woche später dauerte das Gespräch mit ihr nur noch zehn Minuten, in denen mir auffiel, dass sie sich ordentlich mit ihren Notizen befasst hatte. Es ging mir gut, danach erst recht, weil sie meine Texte gut fand. Beim ersten Mal hatte ich ihr den Link aufgeschrieben und sie hatte wirklich Teile davon gelesen.
Am besten waren die locker, lustig, teilweise sarkastisch und selbstkritisch vorgetragenen Themen von der etwas dicken Frau Dünnbeil. Zuerst hatte ich Dünnbein verstanden, was meinen Blick beim Ersten aufeinander treffen automatisch auf ihre Beine lenkte. Sie zog ihre Figur in Bezug auf ihren Namen teilweise selbst ins Lächerliche und behandelte Themen wie Angstbewältigung, Fatigue und Leben mit Krebs. Sie schaffte es, trotz aller Ernsthaftigkeit, die Leute zum Lachen zu bringen.
Zusätzlich zum Sport und Vorträgen gab es auch noch die sehr angenehmen Dinge zum Entspannen, die hin und wieder, leider viel zu selten für meinen Geschmack, auf dem Therapieplan auftauchten. Tai-Chi Qi Gong gehörte teilweise dazu. Besser war jedoch die sogenannte Überwassermassage auf einem Hydro-Jet, bei der man mit einem Wasserstrahl massiert wurde.
Das Highlight war für mich jedoch die Klangschalentherapie, erst recht, wenn sie von Herr Cichoradzki geleitet wurde. Er gehörte neben Frau Dünnbeil für mich zu den Menschen, die für ihren Beruf geboren wurden.
Es war völlig egal, welche Art von Sport man bei ihm hatte. Es war einfach immer gut. Mit seiner ruhigen wohlklingenden Stimme hatte er die Menschen bei der Klangschalentherapie in Sphären geschickt, die wir alle so nicht kannten. Die Frauen waren völlig auf ihn abgefahren und ich war überzeugt, dass einige dabei waren, die gerne eine Privataudienz bei ihm gehabt hätten.
Alles in allem fühlte ich mich bestens in der Reha aufgehoben. Schon vorher auf dem Weg der Besserung, hatte sie mir zu deutlich mehr Fitness verholfen, auch oder gerade, weil ich mit Ehrgeiz und Elan die Sache offen angegangen bin und auch die Treppenstufen als Sportgerät betrachtete.
Badminton
Die Badminton-Abende waren klasse.
Zwar hatte ich das zuletzt in der Schulzeit gespielt und dementsprechend konnten das manch andere besser als ich, aber ein paar Federbälle hatte ich in der Zwischenzeit schon bewegt. Gabrietta, meine Wenigkeit und ein paar andere, deren Namen ich mittlerweile vergessen habe, hatten eine Menge Spaß. Andre, der Sportler, ehemalige Handballer und Jugendtrainer nur, wenn er gewann.
Er wollte immer Punkte zählen und Spiele machen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er und seine Mannschaften eine gute Zeit miteinander hatten, wenn sie nicht gewonnen hatten und dachte, dass es sogar ein Teil seines Problems war. Er war kein onkologischer Patient.
Anfangs hatten wir das mitgemacht, obwohl es vor allem am ersten Abend blöd war, weil ich seit Jahren keinen Federballschläger mehr in der Hand gehalten hatte. Zu Null hatte ich gegen ihn aber nicht verloren, was ihn schon ärgerte.
Am lustigsten war es, wenn ein Spielergebnis knapp wurde und Andre sich zu seinen Gunsten verzählte oder wenn er verlor. Irgendwann, ich spielte mit ihm zusammen, hatte ich mir schon einen Spaß daraus gemacht, Bälle mit Absicht ins Aus zu schmettern oder leider nicht mehr zu bekommen. Das Highlight war der Abend, an dem er mit mir mehrmals knapp 10:9 oder 10:8 gegen Bernd und Gabrietta verlor und er dabei ein paar Mal selbst den letzten Ball versemmelte.
Mit Gabrietta, Toni und Heike, meist spielten wir zu viert, hatten wir ohne Punktestand mehr Spaß. Hauptsache, wir waren in Bewegung und der Ball in der Luft. Wenn er mal den Boden berührte und sich weiterspielen ließ, war es egal und viele Bälle, die deutlich ins Aus gingen, wurden voller Einsatz gerettet und weitergespielt, ohne dauernd zu zählen und neu aufzuschlagen.
Eines Abends, Patienten kamen und gingen ständig, erschienen Neon und Rumpelstilzchen. Neon hatte sofort seinen Namen weg, Rumpelstilzchen erhielt ihn kurz danach. In seinem Neon-Orange-Farbigen Trikot mit dazu passenden Schuhen und seiner penisbetonenden Hose sprang der Rechtsträger einem ins Auge und ich dachte sofort „schwul“. Ob er das wirklich war, kann ich zum Glück nicht beurteilen.
Rumpelstilzchen war wie ein kleiner Flummi mit Halbglatze, dotzte quirlig über das Spielfeld und kämpfte um jeden Ball, sogar, wenn er trotz springen zu kurz war.
Nach jedem verlorenen Ball riss er sich vor Wut fast ein Bein aus.
Neon war auch so ein Sport-As, das unbedingt gewinnen will und spielte recht gut. Den Zahn, gewinnen zu müssen, konnte ich zusammen mit Gabrietta den beiden zum Glück ziehen, nachdem wir ein paar Bälle einfach weitergespielt hatten. Wenn sie gegen andere spielten, war die Gewinnsucht, vor allem bei Neon, sofort wieder da.
Das Spiel mit Neon und Andre in einer Mannschaft hatte ich leider verpasst. Andre stand dabei wohl fast unbeteiligt auf dem Spielfeld wie ein kleiner, dicker Junge, der beim Sportunterricht als letzter in eine Mannschaft gewählt wurde, weil Neon zu schnell für ihn war und auch die Bälle spielte, die in seine Richtung unterwegs waren.
Als Walking bei mir auf dem Plan stand, wir drehten Runden im Park, war Neon auch einmal dabei und hatte dabei fast eine Runde mehr als die Schnellsten geschafft. Fast alle hatte er überrundet, manche sogar 2 Mal.
Als sich die Neonfarbe seines Trikots von orange auf grün änderte, war ich schon enttäuscht, dass er nicht auch dazu die passenden Turnschuhe hatte.
Schmalzi
Es gab unter den Patienten natürlich noch weitere Kuriositäten, die um Aufmerksamkeit buhlten.
Schmalzi war so einer.
Zum ersten Mal aufgefallen war er mir im Raucherpavillon. Er war sich ständig am Beklagen und träumte davon, einen Job mit einer ihm würdigen Bezahlung zu bekommen, fand sich einfach toll und machte einen auf Supersportler. Nachdem ich ihm empfohlen hatte, eine Dönerbude zu eröffnen, konnte er mich nicht mehr leiden.
Das nächste Mal sah ich ihn in der Muckibude auf dem Laufband, während ich auf dem Ergometer im nur durch eine Scheibe getrennten Raum saß. Er war extrem auffällig am fishing for comliments und bestaunte dauernd seine nicht überdurchschnittliche Muskulatur. Keiner mochte ihn und er tauchte auch nicht mehr bei den Rauchern auf, aber dauernd gab es neue Storys über ihn, weil ihm wieder etwas nicht passte.
Ärzte und Therapeuten hätten keine Ahnung und die Anwendungen, manche hatte er kurz nachdem sie begonnen hatten, einfach wieder verlassen, wären alle Scheiße.
Das Einzige was ihn interessierte, war die Muckibude und seine Arme. Weil er es nicht oft schaffte, auf der Liste zu stehen, wartete er immer vor der Tür, in der Hoffnung, jemand, der sich eingetragen hatte, würde nicht erscheinen. Als für ihn einmal die Chance bestand, für jemanden, der sich aber nur verspätet hatte, einzuspringen, er musste wohl erst noch sein Muskelshirt holen, soll er sich tierisch aufgeregt haben, weil er doch nicht hinein durfte und wurde wohl auch laut und unverschämt.
Den Vogel abgeschossen hatte er, als ich auf der Liste stand. Plötzlich waren 8 statt 4 Leute da, weil er, das unterstelle ich ihm einfach, die ersten vier Zimmernummern, mit denen wir uns eintragen mussten, einfach durchgestrichen hatte, um sich selbst eintragen zu können. Er war Nummer 5 auf der Liste. Nach ihm hatten sich noch drei unauffällige Frauen eingetragen, bei denen ich es mir einfach nicht vorstellen konnte, dass sie mit der Streichungsaktion etwas zu tun haben würden. Die ersten vier Eingetragenen wurden alle mit einem Kuli so durchgestrichen, dass keine Chance bestand, die Nummer darunter noch zu erkennen. Bei meiner, ich wusste ja an welcher Stelle ich gestanden hatte, war sogar ein Loch im Papier.
Schmalzi war natürlich überpünktlich und schon aktiv. Der Aufsicht war die ganze Sache unangenehm, weil die Gestrichenen natürlich empört waren. Im Gegensatz zu Schmalzi wurde aber keiner unverschämt. Den Kommentar, dass es wohl offensichtlich war, dass nur einer der Anwesenden für die Streichungsaktion verantwortlich sein konnte, konnte ich mir aber nicht verkneifen.
Später stand Schmalzi dann in der Empfangshalle, posierte und bestaunte seine Arme, als ich mit Andre, Jessi und Gabrietta auf dem Weg nach draußen war. Auf meine schnippische Frage, ob es in der Muckibude denn schön gewesen sei, hatte er nur blöd geklotzt.
Sein Dasein als psychosomatischer Patient hatte wohl seine Berechtigung, aber ob ihm jemals geholfen werden kann? Ich denke, er war als Kind schon Scheiße und der Klassenarsch. Immerhin dient er mir hier noch als Lachnummer. Keiner ist nutzlos.
Zum Glück gab es auch noch genug nette und ganz nette Menschen. Schmalzi war zum Glück immer nur kurz das Thema, wenn er mal wieder unangenehm aufgefallen war. Die Meisten der Raucher waren ok, manche egal und ganz wenige nervten mal. Tommy hatte ich schon erwähnt, aber es gab noch genug andere, über deren Witze und Sprüche man gut lachen konnte. Tagsüber traf man sich aber oft wirklich nur für eine Zigarettenlänge zwischen zwei Anwendungen, abends auch nicht länger, wenn der Pavillon voll war und man im Schneesturm stand.
Heike, auch vom Badminton und Vera (Danke für den Cappuccino) sind mir namentlich noch in Erinnerung geblieben, auch weil sie mit mir den Schneebogen gesucht hatten.
Vera hatte meine Texte, den Link dazu gabs für einige anfangs handschriftlich von mir, bis mir die Sekretärin der Chefärztin einen Flyer für das schwarze Brett ausdruckte, gelesen, fand sie wohl richtig gut und war begeistert. Mein erster Fan?
Ansonsten sind Namen nur Schall und Rauch für mich, die Gesichter vieler netter Menschen bleiben aber haften.
Am Meisten Kontakt hatte ich zu Gabrietta, auch weil wir uns als onkologische Patienten die Meisten Vorträge zusammen anhören durften. Mit ihr war ich nicht nur musikalisch auf einer Wellenlänge, auch wenn sie es etwas härter mochte. Blödsinn reden, da bin ich ein Naturtalent, konnte man mit ihr Bestens, aber wir hatten auch jede Menge ernsthafter Gespräche.
Eine Menge Nonsens hatten wir uns hin und her geschickt, bis mein Handy wohl wegen sarkastischer Störungen den Geist aufgab.
Erst flackerte der Bildschirm, dann reagierte er immer seltener, ging ständig aus, bis schließlich nichts mehr ging. Am nächsten Morgen ließ sich mein Handy noch einmal einschalten. Es reichte gerade noch, meiner Schwester per WhatsApp zum Geburtstag zu gratulieren, danach ging nichts mehr.
Mit Gabriettas Handy rief ich am Abend zu Hause an, um Janina Bescheid zu sagen. Wir verabredeten, zukünftig über Skype zu telefonieren, das ging nach kurzen Anlaufschwierigkeiten auch. Die nicht so tolle Aussicht aus meinem Zimmer wurde durch die gute Netzverbindung ausgeglichen. Gabrietta und andere mussten sich auf ihren Zimmern mit Blick auf den Schwarzenbacher Teich des Öfteren mit Verbindungsschwierigkeiten herumärgern.
Am Tag bevor mein Handy den Geist aufgab, hatte ich eine kleine Matschwanderung gemacht und dabei Musik mit dem Headset gehört. Im fiesen, kaum spürbaren Nieselregen umrundete ich einen schönen Teich, den Gabrietta mit dem Fahrrad oder beim Joggen entdeckt und mir empfohlen hatte.
Über Wassergräben und einen gerodeten Hang, auf dem man den Weg nur noch erkennen konnte, weil er mit allerlei Astwerk für die schweren Maschinen befestigt worden war, ging es über Stock und Stein zurück. Als ich irgendwann die Lautstärke regeln wollte, bemerkte ich, dass das Kabel nass war. Vermutlich hatte mein Handybildschirm die dadurch eingedrungene Feuchtigkeit nicht so gut vertragen.
Ein paar Tage später, es war ja eigentlich nur der Bildschirm kaputt, wollte ich das Handy an mein Laptop anschließen, um so an meine Kontakte zu gelangen, ging es plötzlich wieder. Das schon neu bestellte konnte ich wieder zurückschicken, prima.
Gabrietta war auch die Ideengeberin, mal zusammen ein Paar Bier zu trinken und dabei zu quatschen.
Typisch für sie kam ihre Anfrage per WhatsApp mit einem Bild von der Bierauswahl aus dem Supermarkt. Am gleichen Abend sind wir mit je zwei 0,5er Bierdosen im Rucksack über den Damm am Schwarzenbacher Teich zu einer, natürlich von ihr entdeckten, Feuerstelle mit Sitzgelegenheit geschlendert und hatten es uns gut gehen lassen.
Zu meinem Abschied, sie war eine Woche länger da, hatten wir das an meinem letzten Abend noch einmal wiederholt.
Huldigung
Mein dreiwöchiger Aufenthalt in der Rehaklinik Oberharz ging dem Ende zu. Der Schnee taute endlich endgültig, aber warm wurde es erst wieder am Tag meiner Abreise.
Am letzten Wochenende meiner Reha war der Brocken immer noch schneebedeckt, als ich ihn freitags das letzte Mal sehen konnte. Es wäre auch ohne Schnee zu heftig geworden, ohne Training zu versuchen, die Strecke zu meistern.
Also bin ich am Samstag auf die glorreiche Idee gekommen, nach Osterrode zu wandern.
Wir hatten eine Kurkarte, mit der wir kostenlos die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen konnten und bei der Klinik gab es eine Bushaltestelle. Also auf Schusters Rappen nach Osterode und mit dem Bus wieder zurück. So war der Plan. Eine schöne Strecke hatte ich mir gegoogelt.
Völlig fertig nach 15 km, teilweise auf kaum noch sichtbaren Wegen über gerodete Berge, aber auch schöner Natur, kam ich an einer Bushaltestelle an, zehn Minuten, nachdem ein Bus gefahren war. Samstags fuhren sie leider nur im zweistündigen Rhythmus.
Angesäuert, weil ich mit so schlechter Verbindung nicht gerechnet hatte, wollte ich mir ein Taxi rufen, aber auch das klappte nicht. Es gab in Osterrode und Clausthal-Zellerfeld nur zwei Taxiunternehmen. Das eine war ausgebucht, das andere nicht zu erreichen.
Für den Rückweg würde ich über zwei Stunden brauchen und mein Proviant war aufgebraucht. Außerdem hatte ich mich für die Muckibude eingetragen und wollte nicht zu spät kommen.
Also rief ich Gabrietta an, sie war ja auch mit dem Auto da und konnte mich eventuell abholen. Leider war die Verbindung so schlecht, dass wir uns nicht wirklich verstehen konnten, dann brach sie ab. Sie hatte mal wieder kein Netz.
Jessi erreichte ich, aber sie war mit ein paar Mädels in einer ganz anderen Richtung unterwegs und konnte mich nicht einsammeln. Von anderen, die mit dem Auto da waren, hatte ich keine Nummer. Wenigstens Andre konnte ich erreichen, damit er mich von der Liste streichen und ein anderer die Muckibude nutzen konnte.
Irgendwann hatte Gabrietta doch wieder Netz, meine Nachrichten gelesen und kam mich, 20 Minuten bevor der Bus gekommen wäre, abholen. Gut durchgekühlt war ich heilfroh, sie zu sehen.
Seither stehe ich für diese Lebensrettung tief in ihrer Schuld und muss ihr huldigen ;o)
Entsprechende Showeinlagen gab es natürlich.
Sösetalsperren
Aller guten Dinge sind drei, deshalb hatte ich sonntags doch noch eine kleinere Radtour unternommen, obwohl das Wetter nicht gerade einladend und Regen gemeldet war. Die Sösetalsperren waren das Ziel und ich blieb sogar, bis auf Schweiß, trocken.
Der Weg war nur teilweise schön. Vorbei an ein paar Teichen durch Wald und Wiesen und durch einen Bach, der einfach den Weg kreuzte, kam ich mal wieder auf einem komplett gerodeten Berg inklusive einer auf einer Kreuzung quer stehenden Rodungsmaschine, an der ich mein Rad vorbei tragen musste, an. Danach ging es bergab fast bis zur Talsperre und es war, durch den Fahrtwind erst recht, arschkalt.
Immerhin hatte an der großen, es gab drei Talsperren, ein Kiosk offen und ich konnte mir einen warmen Kaffee kaufen. Um die hart getroffene Gastronomie zu unterstützen, hatte ich mir sogar eine Wurst gegönnt, obwohl ich noch nicht wirklich Hunger hatte.
Der Weg zurück war gemein, aber das wusste ich vorher. Nach fast drei Wochen Sport sollte es zu schaffen sein.
Bis auf ein kleines Stück von ca. 300 Metern ging es auch. Die hatten es in sich und ich konnte die steile Steigung schon auf dem Hinweg bewundern, weil ein Teil der Strecke der gleiche war.
Einen anderen Weg vom Sösestausee zurückfahrend, nachdem ich ihn umrundet hatte, hätte ich den zugewachsenen Weg von unten kommend, übersehen, weil er als solcher nicht gleich zu erkennen war und ohne die Aufforderung von meinem Navi, rechts abzubiegen, wäre ich vorbeigefahren.
Die Alternative zu diesem Abenteuer wäre ein Umweg von mehr als 2 Kilometer gewesen und auch auf dieser Strecke hätte ich ja mindestens die gleichen Höhenmeter schaffen müssen. Also hatte ich mein Rad über einen weiteren Wassergraben in ein schlammiges, mit Brombeertrieben durchzogenes Hangstück gehoben.
Wer sein Fahrrad liebt, schiebt...
...oder trägt.
Die Reststrecke war, nachdem ich den gerodeten Berg wieder hinter mir gelassen hatte, richtig klasse und hatte echt Spaß gemacht. Mittlerweile kannte ich mich rund um die Klinik schon recht gut aus und machte noch ein paar nette, kleine Umwege bis klar war, dass es wirklich gleich anfangen würde, zu regnen. Die ersten Tropfen fielen, als ich mein Fahrrad unterstellte. Glück gehabt.
Endphase
Der letzte Tag vor der Abreise war noch einmal prall gefüllt mit Terminen. Die Wassergymnasik, Unterwassermassage oder Klangschalentherapie waren zum Abschluss leider nicht dabei, schade.
Dafür gab es eine Entlassungsuntersuchung und einen Vortrag “Entlassung arbeitsunfähig. Was jetzt?”
Die Untersuchung war gut, ich hatte trotz Muskelaufbau 4 Kilo abgenommen, fühlte mich deutlich fitter als bei meiner Anreise und mental fast so weit, wieder in das Arbeitsleben einzusteigen. Meine arbeitsunfähige Entlassung hatte man mir bei der Visite nach einer Woche schon angekündigt.
Ich bekam eine Überweisung für Rehasport und einen ärztlichen Kurzbrief für meinen Onkologen. Den anschließenden Vortrag konnte ich vorzeitig verlassen. Er war eher für Arbeitnehmer, nicht für Arbeitsuchende.
Mit Wirbelsäulengymnastik und MBOR-Arbeitstraining in der kleinen Muckibude endete mein Sportprogramm. Zwischenzeitlich packte ich die Sachen, die ich nicht mehr brauchte und verstaute mein Fahrrad wieder im Auto. Am Abend zuvor hatte ich sozusagen mein Abschiedsspiel beim Badminton.
Das Malle-Syndrom
Es hatte schleichend begonnen.
Erst fielen mir beim Essen zwei Damen auf, die einen Platz besetzten, indem sie ihre Jacken über die Stühle hängten, um sich anschließend für das Mittagessen anzustellen. Üblich war natürlich die umgekehrte Reihenfolge. Es wäre kein Problem gewesen, genug Plätze waren ja da, nur haben sich mit der Zeit immer mehr Leute nicht mehr an die vorgegebenen Essenszeiten gehalten und sind aufgetaucht, wann es ihnen in den Kram passte. Dann wurden die freien Plätze manchmal knapp.
Als hätten einige nur darauf gewartet, dass jemand damit anfängt, wurde das Verhalten der beiden Damen schon beim Abendessen mehrfach kopiert und mir kam in den Sinn, dass es nur noch fehlen würde, dass sich jemand einen Platz reserviert, indem ein Badehandtuch über einem Stuhl ausbreitet.
Am letzten Abend, Gabrietta und ich hätten gerne zusammen an einem Tisch gesessen, waren alle Plätze belegt. Mit unseren Tabletts in Händen entdeckten wir in der letzten Ecke noch einen freien Tisch. Auf dem Weg dorthin konnten wir aber feststellen, dass über einem Stuhl eine Jacke hing. Auf dem zweiten Platz lag ein Schlüssel auf dem Tisch. Am Nebentisch wurde ein Platz frei, Ladies first, Gabrietta konnte sich setzen. Ich hatte kurzerhand den Schlüssel genommen, auf die andere Seite des Tisches zur Jacke gelegt und mich ebenfalls gesetzt.
Kurz darauf gesellte sich eine Frau, die Platzreservisten waren eigenartigerweise fast nur Frauen, zu mir an den Tisch und sagte, dass sie es schade fände, dass ich nicht respektieren könne, dass der Platz schon besetzt gewesen sei.
Zuerst hatte ich noch die Ausrede parat, dass ich davon ausgegangen sei, dass der Schlüssel zur Jacke gehöre, besann mich und ließ dabei durchblicken, dass mir schon klar war, was der Schlüssel bezwecken sollte.
Respektieren war das Wort, dass mich dazu veranlasst hatte, ihr meine Meinung über das Verhalten der Platzreservierung zu sagen und es gab eine Diskussion zwischen der leicht empörten Dame, mir, Gabrietta und den an ihrem Tisch sitzenden Rechtsanwalt.
Nachdem ich ihr Verhalten mit der frühmorgendlichen Liegenreservierung deutscher Urlauber mit dem Handtuch verglichen und sie gefragt hatte, ob sie schon öfter auf Mallorca Urlaub gemacht habe, konnte ich die Situation aber entschärfen, nachdem ich ihr trotzdem einen guten Appetit und einen schönen Abend gewünscht hatte.
Manche Menschen merken selbst nicht einmal, dass ihr Verhalten total unsozial ist, ein Resultat unserer Ellenbogengesellschaft.
Der Anfangs leicht gereizten Dame, die sich zuerst im Recht fühlte, konnten wir diesen Zahn aber ziehen. Auch der Anwalt war unserer Meinung und ich konnte mir zwischenzeitlich die Frage nach einem Rechtsanspruch nicht verkneifen. Gabrietta hatte die Stimmung weiter entspannt, das Thema gewechselt und die Frau in ein Gespräch verwickelt. Ich hoffe, sie wird an uns denken, wenn sie mal wieder in eine solche Situation kommt und sich sozialer verhalten.
Tschüss
Die Verabschiedung am nächsten Tag war, wie Tommy es beschrieben hatte. Man ging mit einem lachenden -, weil man sich auf zu Hause freute und einem weinenden Auge, weil man manche, die man kennen gelernt hatte, doch mochte.
Nach dem Frühstück musste man das Zimmer bis 8 Uhr geräumt haben. Für meinen Geschmack war das zu früh, weil ich mich auf dem Rückweg gerne mit dem Goldkehlchen getroffen hätte. Aus Zeitgründen leider aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.
Wohl weil ich mich gerne zweimal verabschiede, hatte ich meine ADAC-Karte im Zimmer stecken lassen. Ohne Karte neben der Tür einzustecken, ging im Zimmer kein Strom und man sollte dazu die Karte benutzen, die auch der Schlüssel war, aber jede Beliebige funktionierte auch, um den Strom einzuschalten. Für den Ladebetrieb von Handy oder Laptop und den Kühlschrank war das sehr nützlich, eine Karte stecken zu lasse, wenn man das Zimmer verließ.
Beim Abreisen eher nicht.
Zum Glück ist es mir nach einem Kilometer eingefallen. Nachdem ich meine Karte von einer Putzfrau wieder bekommen hatte, also noch ein letztes Mal.
Knutsch, drück und Tschüss.