4. Zyklus / 3. Woche
Mittwoch, 07.10.2020
Wieder geht es mir fast schon unverschämt gut.
Mit meiner Vorgeschichte bin ich gut voran gekommen, aber noch nicht ganz fertig.
Als ich hier im Tagebuch etwas nachlesen will, fällt mir wieder auf, dass es hier und da noch Stellen im Tagebuch gibt, an denen ich einen Kommentar eingefügt habe, weil etwas fehlt.
Ich fülle die meisten Lücken und mache mir Notizen von allen Namen, die hier vorkommen, weil es vielen sicher nicht recht wäre, mit ihrem richtigen Namen erwähnt zu werden.
Bevor ich einen Text für alle lesbar ins Netz stelle, will ich alle Namen austauschen. Es ist für mich aber leichter, vorab mit den richtigen zu schreiben.
Einen wichtigen Anruf erledige ich mit einem für mich guten Resultat und kümmere mich um Post und Ablage.
Wie schnell das geht, wenn man nichts suchen muss. Leider bin ich ein Büromuffel und in einem Jahr sieht es auf unserem Schreibtisch bestimmt wieder chaotisch aus.
Heute schaffe ich es sogar, das Buch, das ich mir vor ein paar Tagen aus der ehemaligen Telefonzelle mitgenommen habe, zu lesen anzufangen.
Donnerstag, 08.10.2020
Die Vorgeschichte habe ich heute beendet und bin zu der Ansicht gekommen, dass ich noch ein Vorwort und etwas über mich schreiben sollte. Ich habe also noch jede Menge zu tun, obwohl das Vorwort sicher kürzer wird, als die Vorgeschichte.
Bisher habe ich alles nur mit Datum versehen geschrieben. Bei deutlich über 100 Tagen wird es aber mit der Navigation im Text mühsam und unübersichtlich, deshalb werde ich es in die einzelnen Zyklen unterteilen. Die Vorgeschichte habe ich mit ein paar Überschriften versehen.
Heute habe ich wieder einen Termin bei „Weiterleben e. V.“, dieses Mal mit einer Psychologin.
Ich bin gespannt, ob die Chemie mit der Frau stimmt und wie sich dieses Gespräch entwickelt. Es geht mir hauptsächlich darum, kompetente Hilfe zu bekommen, wenn ich bei meiner Gratwanderung, als solche empfinde ich meine Art und Weise mit der Krankheit umzugehen, vom Weg abkomme und drohe abzustürzen. Dann brauche ich jemanden, der mir ein Rettungsseil zuwirft.
Sie sichert mir zu, innerhalb von wenigen Tagen einen Termin bei ihr bekommen zu können, wenn mein Hilferuf bei ihr eingeht und ich bekomme ihre Mailadresse. Prima. Es ist für mich beruhigend, zu wissen, dass ich diese Möglichkeit habe. Auch sie empfiehlt mir, mich an die Selbsthilfegruppe zu wenden, die mir schon von ihrer Kollegin empfohlen wurde.
Von Liane erhalte ich eine Nachricht, dass heute Klangschalenmeditation ist. Das habe ich vergessen und beschließe kurzfristig, dorthin zu gehen.
Schaden wird es sicher nicht und zum Entspannen ist es bestimmt gut. Es ist so kurzfristig, dass mir sogar die Zeit fehlt, Liane Bescheid zu sagen, dass ich kommen werde.
Sie ist überrascht, mich zu sehen. Außer ihr und Sabine kenne ich niemanden von den Teilnehmern, aber das spielt keine Rolle.
Nachdem alle ihren Liegeplatz eingenommen haben, redet ohnehin keiner mehr außer Sabine, die zu den Klängen der vielen Schalen, die sie vor sich stehen hat, zur Einleitung eine entspannende Geschichte erzählt, bis man in seiner Gedankenwelt angekommen ist und nur noch die Klangschalen zu hören sind.
Ich glaube, ich habe kurz geschlafen, bin mir aber nicht sicher. Auf alle Fälle holen mich höhere Klänge als die, die ich zuletzt bewusst registriert habe in das hier und jetzt zurück. Bald danach klingen die zuletzt angeschlagenen Klangschalen aus.
Ich fühle mich tiefenentspannt und habe gar keine Lust aufzustehen. Danach kann man erzählen, wie es war, wohin die geistige Reise geführt oder wie man sich gefühlt hat.
Janina will natürlich wissen, wie es war. Sie selbst hat das zusammen mit Liane auch schon gemacht, meint aber, dass sie die Stimme von Sabine nicht mag.
Schade, ich dachte, eine gute Idee für ein Weihnachtsgeschenk zu haben.
Freitag, 09.10.2020
Ich werde Nebenwirkungsfrei wach, nachdem ich die Tiefenentspannung der Klangschalen mit in den Schlaf nehmen konnte und bleibe es, bis auf wenige kurze Augenblicke den ganzen Tag.
Die letzte Woche vor der nächsten Chemotherapie geht es mir immer am besten, bis ich mir wieder mehr Gedanken mache, wie ich die kommende chemische Keule wohl verkraften werde. Zum Glück habe ich ja noch ein paar hoffentlich nebenwirkungsarme Tage bis zum nächsten Zyklus vor mir.
Während ich die Vorgeschichte geschrieben habe, hat mein Tagebuch wieder gelitten, bedarf meiner Aufmerksamkeit und ich habe für ein paar Stunden Beschäftigung.
Nachmittags mache ich mit Janina einen Ausflug zu ihrem Physiotherapeuten und gehe, während sie ihre Übungen macht, Getränke einkaufen.
Johannes Mario Simmel nimmt auch noch etwas Zeit in Anspruch. Seine Art zu schreiben gefällt mir.
Samstag, 10.10.2020
Für meine Verhältnisse habe ich lange geschlafen. Janina kann das Problemlos. Ich stehe meistens schon zwischen 6 und 7 Uhr auf. Nach dem Frühstück mit anschließender Zeitungslektüre ist es schon 12 Uhr vorbei.
Alex meldet sich telefonisch und sagt für den heutigen Spieleabend ab. Seine Laune ist nicht die beste, weil bei seinem Auto der Turbo zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit kaputt gegangen ist und wieder ersetzt werden müsste. Wir quatschen lange über Autos und er fragt mich natürlich, wie es mir und Janina geht.
Verdammt, er erinnert mich daran, dass ich doch krank bin. Bis jetzt habe ich heute gar nicht daran gedacht.
Janina schlägt vor, dass wir ihm ein Auto ausleihen können. Wir haben jeder eines, weil noch nicht ersichtlich ist, wie sich meine berufliche Situation entwickelt. Sollte ich einen Job finden, der gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder sogar mit dem Fahrrad zu erreichen ist, werden wir eins davon verkaufen. Die Idee, ihm mein Auto auszuleihen, hatte ich schon, während wir noch telefoniert haben, wollte es ihm aber nicht ohne Rücksprache mit ihr anbieten.
Zwischenzeitlich hat er mit einem Autohändler und -schrauber, der sich wohl bestens mit Turboladern auskennt, telefoniert und meldet sich wieder. Der kann das wohl reparieren, ohne dass ein neuer benötigt wird. Dafür muss sein nicht mehr fahrendes Auto aber nach Kassel und wir überlegen, wie wir das bewerkstelligen können. Über unser Angebot freut er sich, aber er kann vorerst das Auto seiner Eltern benutzen.
Am Abend amüsieren wir uns auch ohne ihn köstlich beim Spieleabend bei Holly, besonders als sie, wir spielen gerade Aktivity, pantomimisch versucht, ein Bambi darzustellen und Maria erraten soll, was das ist. Ich hätte eher Einhorn geraten, aber Maria ist der Meinung, dass es ein Haase sein könnte.
Sonntag, 11.10.2020
Es geht mir zwar gut, aber die Waage lügt wieder. Ich beschließe, mein Gewichtsproblem mit Intervallfasten zu bekämpfen und frühstücke erst um 10.30 Uhr. Nach 18.30 Uhr will ich 16 Stunden nichts mehr essen.
Ich habe das schon einmal gemacht und in relativ kurzer Zeit einige Kilogramm verloren. Alles andere macht keinen Sinn und ich habe auch keine Lust auf irgendeine Diät. Für den Jo-Jo-Effekt sorgen ab nächsten Mittwoch ja wieder die Kortison-Tabletten. Mal sehen, ob ich mit meiner dann aufkommenden Fresssucht das Intervallfasten durchstehe oder ob ich doch wieder mit irgendwas zu essen spät abends auf der Couch liege.
Nachdem ich jetzt wieder mit meinem Tagebuch auf dem neuesten Stand bin, will ich wenigstens einmal aus dem Haus gehen und ein Stück spazieren. Wenigstens um den Modau-Stausee. Danach kann ich ja noch lesen oder ich fange an, ein Vorwort zu schreiben.
Weil der Stausee im Schatten liegt, spaziere ich am Roßberg zwischen Ober-Ramstadt und Roßdorf bei Sonnenschein und bester Fernsicht. Taunus und Spessart kann man von hier sehen, genauso wie die Skyline von Frankfurt und den Schandfleck in der Landschaft, das Staudinger Kohlekraftwerk bei Hanau. Nachdem ich die Aussicht genossen habe und ein Stück zügig gelaufen bin, hole ich Janina zu Hause ab, damit sie auch einmal in die Sonne kommt und wir genießen den Fernblick gemeinsam.
Montag, 12.10.2020
Ich bin früh wach, es geht mir körperlich gut.
Ein Labortermin und anschließend einer beim Onkologen steht an. Die Laborwerte sind wieder ok. Ich erkundige mich bei Dr. Rieger, ob ich bei einer Veröffentlichung seinen Namen und den von Dr. Dingeldein ändern oder die richtigen nehmen soll. Immerhin mache ich ja Werbung für ihre onkologische Praxis. Er ist sich nicht sicher und will Rücksprache mit seinem Kollegen halten, der diese Woche nicht im Hause ist. Ich schlage ihm vor, die Stellen an denen sie erwähnt werden, auszudrucken und vorzulegen. Ich denke, dass ich beim nächsten Termin Klarheit haben werde.
Ich nutze den Tag und schreibe ein Vorwort und noch etwas über mich.
Jetzt wo ich alles so weit fertig geschrieben habe und mit meinem Tagebuch auf dem Laufenden bin, wäre es an der Zeit, sich um die Veröffentlichung zu kümmern. Da ich Gedanklich aber damit beschäftigt bin, wie ich den am Mittwoch anstehenden Zyklus 5 überstehe, scheint mir nicht der rechte Augenblick dafür zu sein.
Lilly hat mir gestern eine Sprachnachricht geschickt, die ich heute erst entdecke. Sie hat etwas in Karlsruhe zu erledigen und fragt, ob wir uns in den nächsten Tagen dort treffen wollen. Es ist die ungefähre Mitte zwischen uns. Weil ich nie wissen kann, nur ahnen, wie es mir an welchen Tag geht, wollen wir in ein paar Tagen etwas genaueres ausmachen. Wenn ich schon nach Karlsruhe fahre, dann aber nicht, ohne Kurt zu besuchen. Vielleicht können wir uns ja auch zu dritt treffen.
Lesen hilft manchmal, sich abzulenken. Davon bin ich später so müde, dass ich nicht in das Steinbruch-Theater fahre, sondern früh in der Horizontalen lande.
Dienstag, 13.10.2020
Ablenkung tut irgendwie Not und Alex scheint dafür einen siebten Sinn zu haben. Er meldet sich telefonisch und ich fahre ihn besuchen.
Erst mal checken wir seine Playliste für die geplante Tanzalternative und wir fügen zusammen noch ein paar Titel dazu. Weil Marc umgezogen ist und deshalb sein Haus nicht mehr zur Verfügung stellen kann, findet das beim nächsten Mal bei Alex statt, der in seinem Nebengebäude, das als Flipperwerkstatt und Büro genutzt wird, genug Platz hat, damit wir uns wegen Corona nicht zu nahe kommen.
Hoffentlich steigt die Zahl nicht so hoch, dass weniger als 15 Personen im privaten Bereich zusammen kommen dürfen. Die Entwicklung ist ja sorgenerregend.
Später gehen wir einen Kaffee trinken und lassen es uns mit süßen Sachen gut gehen.
Es steht immer noch in den Sternen, was mit seiner Mobilität passiert. Ob er sich jetzt unser Auto kaufen oder leihen will oder ob er sich ein anderes kauft, wird sich noch zeigen.
Auf alle Fälle wollen wir ein Stück laufen und beschließen, nicht wie angedacht irgendwo um Zellhausen, sondern eine gute Aussicht im Spessart zu genießen und dort zu laufen. Von einer Wandertour kennt er eine gute Strecke bei Aschaffenburg und ich kann ein Teilstück davon ohne Konditionsproblem und Kurzatmigkeit gut meistern.
Den Weg dorthin nutzen wir, damit er einmal eine Probefahrt machen kann.
Leider ist die Aussicht auf dem Weg über den Sternberg bei weitem nicht so gut, wie am Sonntag und nur mit Mühe können wir im Dunst die Skyline von Frankfurt entdecken. Mit dem Handy versuchen wir, uns zu orientieren, was wo liegt und wir suchen natürlich die Sendemasten von Mainhausen.
Das laufen in der Natur und unsere Gespräche bei denen es nicht oder kaum um meine Krankheit geht, helfen mir, mich abzulenken. Zu Hause sitzend wäre ich sicher mehr mit mir beschäftigt gewesen. Außerdem kann ich etwas Bewegung gut gebrauchen.