4. Zyklus / 2. Woche
Mittwoch, 30.09.2020
Den heutigen Tag würde ich gerne überspringen. Mir ist hundeelend und ich fühle mich wie ausgespuckt, obwohl ich meine Magentablette genommen habe.
Mir ist schlecht und ich habe Schmerzen überall, brechen muss ich aber nicht. Selbst mir zu denken, dass nur die Tumore Schmerzen haben, gelingt mir nicht wirklich.
Ich denke an die Worte meines Onkologen, mich auch zu bewegen, wenn es mir schlecht geht und raffe mich auf, spazieren zu gehen, obwohl mir gar nicht danach ist.
Der Weg zum See ist schon beschwerlich genug und ich muss mich dort angekommen erstmal auf eine Bank setzen und ausruhen.
Die zweite Etappe ist einmal um den See, was mir wieder eine Pause abverlangt, bevor ich mich wieder auf den Heimweg machen kann.
Zwischenzeitlich habe ich Ella und Cara geschrieben, damit ich bei jemandem jammern kann, der sich gut in meine Situation versetzen kann. Ella antwortet erst, als ich schon schlafe, aber Caras Trost und Zuspruch tut mir gut und ist genau das, was ich jetzt brauche, um den Rest des Tages durchzustehen.
Zu allem Überfluss kommt heute auch noch jemand wegen unserem Schornstein und ich bin froh, dass es nicht so lange dauert. In ein paar Tagen bekommen wir ein Angebot.
Donnerstag, 01.10.2020
Auch heute Morgen nehme ich brav meine Tabletten, damit mir nicht wieder so schlecht wird, aber es geht mir auch vorher schon besser als gestern. Mein positives Denken oder der Engel auf der Schulter übernehmen den Laden wieder.
Es ist also wie bei dem 3ten Zyklus, da ging es mir auch mittwochs nicht so gut, aber gestern war im Gegensatz zum letzten Mal wirklich übel und ich will mich heute beim Labortermin über die Werte vom Dienstag erkundigen.
Die waren wohl in Ordnung, auch die weißen Blutkörperchen sind im Lot gewesen. Auf die aktuellen Werte zu warten, dauert mir aber zu lange und ich mache mich auf den Heimweg, nachdem ich endlich mein Rezept für die Magentabletten bekommen habe. Die erste Packung mit 50 Stück ist leer.
Heute habe ich es geschafft, den Rest meines Papierkrieges abzulegen. Wahnsinn, wie viel Platz ich jetzt auf meinem Schreibtisch habe. Auch die zu erledigenden Anrufe habe ich getätigt. Jetzt muss ich nur noch ein paar Ordner entrümpeln...
Es ist der erste Donnerstag im Monat und im Biergarten in Roßdorf findet nach der Corona Pause zum 2ten mal wieder Jam-A-Coustic statt, leider in abgespeckter Version. Normalerweise spielt immer erst eine Band und danach spielen Musiker, die ihr Instrument dabei und Lust dazu haben.
Wegen Corona fällt der zweite Part allerdings aus, aber dafür werden die wenigen Gäste von der Patrick O. J. Moore Band, akustische Gitarre, Bass, Cachon und der Stimme von Patrick, entschädigt.
Sie spielen nur eigene Sachen und liefern dabei feinstes Musikerhandwerk ab. Musikalisch ist es eine Mischung aus Bob Dylan und Jethro Tull und die Stimme klingt teilweise ähnlich wie die von Ian Anderson.
Sehr zu empfehlen.
Nicht nur ich bin begeistert von dem Singer und Songwriter und seiner Band. Am Ende frage ich nach einer Visitenkarte, weil ich sie unbedingt wieder hören will. Ich bekomme anstatt einer Visitenkarte eine CD geschenkt, super!
Freitag, 02.10.2020
Es geht mir besser als gestern und ich nehme nur vorsorglich meine Magentabletten. Um den Tag, ich bin wie meistens früh wach, entspannt zu beginnen, lege ich erst mal meine neue CD auf, lege mich auf die Couch und genieße sie in voller Länge.
Später gehe ich mit Janina einkaufen, bevor ich meinen Termin zur Klangschalenmassage habe.
Offen für neues bin ich sehr gespannt, was mich erwartet. Ich weiß nur, dass es keine herkömmliche Massage ist und lasse mich überraschen.
Die nette Frau, bei der ich den Gutschein für Paula gekauft habe, empfängt mich und führt mich in einen schön gestalteten Raum mit einer Liege in der Mitte. Sie erklärt mir kurz aber genau, was auf mich zukommt, stellt ein paar Gesundheitsfragen und ich mache es mir auf dem Bauch liegend, das Gesicht auf einem mit einem Handtuch ausgelegten Loch im Kopfteil, gemütlich und fange schon an mich zu entspannen, bevor sie anfängt. Meine Arme baumeln dabei neben der Liege.
An den mit vielen Nervenenden ausgestatteten Füßen beginnend, setzt sie die Klangschalen darauf und schlägt sie leicht an. Die Vibrationen durchdringen meine Füße und die Unterschenkel. Dann platziert sie unterschiedliche Klangschalen auf meinem Gesäß und auf mehrere Stellen auf meinem Rücken. Dabei redet sie kein Wort und schlägt abwechselnd nur die unterschiedlichen Klangschalen an.
Ihre Ruhe, der Klang der Schalen und die mich durchdringenden Schwingungen verursachen bei mir eine Art Wohlgefühl, dass ich so noch nicht kennengelernt habe.
Ich habe das Gefühl, dass alle Zellen meines Körpers die mich durchdringenden Schwingungen genießen. Außer die bösen Zellen meine Tumore, die die Vibration überhaupt nicht vertragen und davon angegriffen werden.
In meinem Kopf bin ich wieder in der Boxarena und mit jedem Schlag auf die Klangschalen scheinen die Tumore mehr Angst vor dem nächsten Rundengong zu bekommen.
Sollen sie ruhig.
Nach einer gefühlten Ewigkeit muss ich mich auf den Rücken legen. Ihre Aufforderung dazu waren die einzigen Worte, die ich während der ganzen Zeit von ihr gehört habe.
Jetzt geht es auf Bauch und Brust weiter.
Das Ende gipfelt in drei verschiedenen Klangschalen. Sie legt mir noch eine in die Handfläche, wobei sie meine Hand hält, damit ich keinen Muskel anspannen muss und schlägt nacheinander alle drei Klangschalen an. Das Gefühl, wenn sich im Körper die unterschiedlichen Vibrationen begegnen, war schon mit zwei Klangschalen enorm, das absolute Highlight war aber die Begegnung der unterschiedlichen Schwingungen von Brust und Hand ungefähr in der Mitte des Armes, je nachdem welche Klangschale zuerst und in welcher Intensität angeschlagen wurde. Am Ende verlässt sie den Raum, damit ich entspannt noch ein paar Minuten liegen bleiben kann...
Was für ein Erlebnis! Hier noch Mal ein fettes DANKE an Liane und William, die mir den Gutschein geschenkt haben.
Nach der Klangschalenmassage bin ich tiefenentspannt und ich kann mich nicht gleich ins Auto setzen und fahren. Ich entdecke eine ehemalige Telefonzelle aus der man sich Bücher ausleihen oder gelesene mitbringen und spenden kann und nehme mir das Buch „Das geheime Brot“ von Johannes Mario Simmel mit.
Mal wieder die Zeit zu nutzen, ein Buch zu lesen, ist nicht die schlechteste Idee. Ich bin gespannt. Der Name ist mir bekannt, aber ich habe noch nie ein Buch von ihm gelesen.
Abends sehe ich mir die Nachrichten an, weil Janina im Laufe des Tages mitbekommen hat, dass Donald Trump an Corona erkrankt sein soll.
Da hat es meiner Meinung nach ja genau den richtigen erwischt. Hoffentlich wird es bei ihm nicht so harmlos, damit er endlich mal während seiner Präsidentschaft zu denken anfängt, aber ich habe schwere Bedenken, dass das unter seiner 70.000 $ Frisur passieren wird. Armes Amerika.
Wenigstens bleibt die Hoffnung, dass er die Wahlen verliert.
Samstag, 03.10.2020
Hurra, 30. Tag der deutschen Einheit!
Zur Feier des Tages ist Thementag bei 3SAT. Zum Glück, bei dem blöden Wetter fällt mir auch nichts Besseres ein, als mich vor die Klotze zu setzen.
Romeo und Jutta heißt der Film, den ich mir schon am Morgen ansehe und ich finde ihn recht amüsant. Ich mag auch die Schauspieler in den Hauptrollen.
Weil ich eine ganze Woche nachzuschreiben habe, letzte Woche war mir ein paar Tage lang einfach nicht danach, sitze ich ein paar Stunden am Rechner. Ich mache es mir unnötig schwer, aber zum Glück kann ich mich an manches Entfallene erinnern, wenn ich mir auf dem Handy die Anrufliste und Nachrichten bei WhatsApp ansehe.
Ansonsten ist der Tag wie Honig an einem Löffel und ich verbringe die restliche Zeit mit Mittagsschlaf, essen und der Sportschau.
Geile Tabelle, wenigstens sind die Bayern noch nicht auf Platz 1 aber sie sind auch erst morgen dran und werden bestimmt 3 Punkte holen, dann sind sie schon wieder fast oben angekommen. Hoffentlich spielt ihnen die Herta einen Streich.
Sonntag, 04.10.2020
Wie meistens bin ich früh wach und schreibe wieder. Weil ich mir bei manchen Sachen nicht sicher bin, wann sie waren, und deshalb nicht so richtig voran komme, rekonstruiere ich zusammen mit Janina die letzten Tage und mache mir handschriftliche Notizen.
Ich habe immer noch viel zu schreiben, aber mit den Notizen geht es besser.
Nach dem Essen, leckeres Sauerkraut mit Kasseler und Kartoffelbrei, ist mittags das Wetter recht gut und wir fahren an den Waldrand, um ein paar Meter in der Sonne spazieren zu gehen.
Janina humpelt doch recht ordentlich. Wir schaffen bestimmt einen ganzen Kilometer und sammeln dabei Bucheckern, Eicheln und Kastanien für Janinas Herbstdekoration.
Sympathiehalber humpele ich im Gleichschritt mit ihr und frage sie, ob sie sich aus gleichem Grund nicht eine Glatze schneiden lassen will. Vielleicht weil sie von ihrer ständig rutschenden Schiene genervt ist, findet meine Idee keinen Anklang bei ihr, seltsam. ;o)
Als wir wieder zurück kommen, sind Vincent und Loretta da und nachdem wir uns spontan Kuchen geholt haben, spielen wir eine Runde Exit. Wer das nicht kennt, sollte sich so ein Spiel mal holen. Man kann es aber nur einmal spielen, weil danach die Rätsel gelöst sind.
Nachdem die beiden wieder gegangen sind, fängt mein Verdauungssystem an, verrückt zu spielen. Das Sauerkraut habe ich wohl nicht wirklich vertragen, obwohl ich mit Kümmel nicht gespart habe und die Toilette ist jetzt mein bester Freund.
Leider haben wir am Abend nicht daran gedacht, dass wir uns den Queen Film, den wir mit Begeisterung schon im Kino gesehen hatten, noch einmal ansehen wollen und bemerken es erst später, weil uns der Tatort nicht gefällt, Mist.
Weil meine Verdauung mich wach hält, sehe ich mir danach noch eine Dokumentation über Queen und ein Konzert an. Schade, dass Freddy Mercury an AIDS gestorben ist. Viel gute Musik hätte er sicher noch geschrieben.
Montag, 05.10.2020
Nachdem ich einen nicht so tollen Abend und eine noch blödere Nacht hinter mir habe, nehme ich heute brav meine Magentablette. Die Waage lügt wieder, ich hatte gedacht, wenigstens die 85kg Marke zu unterschreiten, weil ich mir sicher bin, mindestens 2 kg abgenommen zu haben, aber das hat leider nicht geklappt.
Ich schreibe weiter und habe es jetzt (12.45 Uhr) mal wieder geschafft, mit meinem Tagebuch auf dem aktuellen Stand zu sein. Was jetzt noch fehlt, ist die Vorgeschichte meiner Krebserkrankung, die ja vor das Tagebuch gehört. Mal sehen, vielleicht mache ich das heute noch, ich habe eh nicht so viel zu tun.
Mit der Vorgeschichte meiner Chemotherapie habe ich tatsächlich angefangen, aber es ist nicht so leicht, weil alles weiter zurück liegt, als ein paar Tage. Telefonisch versuche ich zusammen mit Alex das Datum der Entdeckung meines dicken Lymphknotens in der linken Leiste zu rekonstruieren, was uns jedoch nicht so ohne weiteres auf die Schnelle gelingt.
Abends gehe ich wieder in das Steinbruch-Theater. Es ist noch leerer als vor einer Woche und selbst von den eigentlich zum Inventar gehörenden Leuten sind einige nicht da, aber das Problem mit der begrenzten Anzahl von Menschen an den Tischen ist das gleiche, wie vor einer Woche.
Wie fast immer, wenn ich hier bin, bestelle ich mir erst mal einen Kaffee und gehe in den Biergarten. Auch hier ist wegen dem schlechten Wetter viel weniger los. Wenigstens brennt das Lagerfeuer und qualmt, weil sich keiner darum kümmert, ordentlich. Ich spiele den Feuerteufel, lege noch ein Holzscheit auf und bringe es wieder halbwegs ordentlich zum Brennen.
Das Sitzplatzproblem ist für mich geblieben und ich beschließe die, mich an einen Tisch auf der Tanzfläche zu setzen. Hier hat man wenigstens den besten Klang.
Kim setzt sich mit drei Freundinnen zu mir, von denen ich eine nicht zu kennen glaube. Wir sagen dem DJ Bescheid, dass er die Musik auf der Tanzfläche etwas leiser machen soll, damit man sich besser unterhalten kann. Ein Bekannter von Kim, den ich nur vom Sehen kenne, ich glaube sie kennt hier fast jeden, setzt sich noch zu uns an den Tisch. Er hat schöne lange Haare und ich bin schon ein bisschen neidisch.
Auf der Tanzfläche zu sein und nicht zu tanzen, sondern an einem Tisch zu sitzen, ist ein blödes Gefühl. Zwischenzeitlich war ich noch einmal draußen am Feuer und habe dort getanzt. Es war sonst keiner da.
Jetzt fange ich an, mich auf meinem Stuhl rhythmisch zu bewegen und mit meinen Füßen unter dem Tisch Tanzschritte zu machen. Die Frau, die ich nicht zu kennen glaubte, macht mit und ich erkenne sie an ihren Bewegungen wieder. Wir kennen uns zwar kaum, aber als wir noch tanzen durften, sind wir uns auf der Tanzfläche schon öfter begegnet. Heute trägt sie eine Brille und hat die Haare hochgesteckt, deshalb habe ich sie nicht gleich erkannt. Ein paar Lieder später gehen wir zusammen nach draußen und tanzen, weil es regnet, unter einem Pavillon zusammen Foxtrott und Hustle, bis mir nach drei Liedern langsam die Puste ausgeht.
Ich fühle mich zwar fit, habe aber keine Kondition mehr. Die Kurzatmigkeit ist eine blöde Nebenwirkung.
Dienstag, 06.10.2020
Regenwetter, also die beste Voraussetzung weiter zu schreiben. Ich blättere in meiner jetzt sauber abgelegten Krankenakte und durchsuche WhatsApp, um meine Vorgeschichte zu sortieren. Ein Anruf in der onkologischen Praxis hilft mir dann auch noch auf die Sprünge und es gelingt mir, den zeitlichen Ablauf zu ordnen. Ich schreibe fast den ganzen Tag an der Vorgeschichte meiner Chemotherapie und werde nicht einmal fertig.
Gesundheitlich geht es mir fast zwei Wochen nach der letzten chemischen Keule prima. Das gelegentliche Zwicken und Ziehen im Bauchraum ist erträglich und hält nicht lange an.
Holly meldet sich und ich frage, ob wir den angedachten Spieleabend machen wollen. Wir einigen uns auf Samstag bei ihr, damit Janina mal aus den vier Wänden kommt. Alex und Maria wollen auch kommen.