3. Zyklus / 1. Woche
Mittwoch, 02.09.2020
Ärzte-Rally 2. Teil
Ich muss zur Chemotherapie und Janina zum Kniechirurgen. Bei mir ist das weniger dramatisch, ich verschlafe wieder die Hälfte.
Bei Janina sieht das anders aus. Sie wird von Neu-Isenburg zu einem Spezialisten nach Offenbach überwiesen, der schickt sie zur CT und in ein Sanitätshaus, damit sie endlich eine Schiene bekommt. Wenigstens hat sie es zusammen mit Felicia, die heute alle Fahrdienste übernommen hat, an einem Tag geschafft, aber sie kommen erst am späten Nachmittag zurück.
Weil ich ja nach der Chemo kein Auto fahren darf und die beiden noch unterwegs sind, fahre ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause und lege mich erst mal ab.
Ihre Diagnose wird immer beschissener. Operativ scheint ihr Kreuzbandabriss so kompliziert zu sein, dass eine ambulante Operation wohl nicht in Frage kommt. Deshalb und weil der Kniespezialist ehrlicherweise sagt, dass in Offenbach für so eine seltene Verletzung die besseren Spezialisten sind, hat er sie dorthin überwiesen. Sie soll jetzt bis Freitag die Schiene tragen, um zu sehen, ob alternativ nicht sogar auf eine Operation verzichtet werden kann, wenn durch die Fixierung das abgerissene Kreuzband an die richtige Stelle gerät. Ansonsten ist eine OP am kommenden Dienstag geplant.
Weil die beiden so lange unterwegs waren, haben sie ihren Hunger in Offenbach mit einer Bratwurst gestillt, die Janina leider gar nicht vertragen hat. Kaum zu Hause setzt bei ihr eine üble Magen-Darm-Verstimmung ein, als ob das mit dem Knie nicht schon reichen würde…
Wie das eben manchmal im Leben so ist – wenn man schon kein Glück hat, kommt oft auch noch Pech dazu.
Donnerstag, 03.09.2020
Chemotherapie dritter Zyklus, zweiter Tag.
Wieder überstehe ich alles richtig gut. Trotzdem frage ich meinen Onkologen, ob die Möglichkeit besteht, eine psychologische Behandlung zur Begleitung zu bekommen. Zum einen ist meine Frau der Meinung, dass mir das gut tun würde, zum anderen fällt es mir auch nicht immer leicht, die Sorgen, die ich mir um meine Gesundheut und unsere Zukunft mache, auszublenden.
Der Hang zu Depressionen wird mich wohl den Rest meines Lebens begleiten, aber das hat eher mit meiner Vorgeschichte, als mit meiner Krebserkrankung zu tun. Herr Dingeldein empfiehlt mir einen Verein in Darmstadt. Mal sehen, vielleicht nehme ich Kontakt auf.
Medizin, die nicht bitter schmeckt, wird skeptisch betrachtet und es wird an der Wirkung gezweifelt. Es kommt mir schon fast unheimlich vor, wie ich das Alles fast problemlos wegstecke.
Die kleinen Nebenerscheinungen wie eine leichte Veränderung der Mundschleimhaut und Verwirrungen, was den Geschmackssinn betrifft, die Gewichtsachterbahn durch die 5 Tage Cortison Tabletten, ich habe bis zu 5 kg Schwankungen innerhalb weniger Tage und die Erschöpftheit, ohne etwas gearbeitet zu haben, fallen mir schon fast nicht mehr auf und ich denke, dass ich aufpassen muss, meine Erkrankung nicht zu ignorieren.
Das lenkt mich sonst zu sehr von meinem positiven Denken und den Anfeuerungsrufen für die gegen den Krebs kämpfenden Chemikalien ab.
Für Ablenkung, die ja auch ihre guten Seiten hat, sorgt Janina heute zur Genüge. Ihre vom Oberschenkel bis fast zum Knöchel reichende Schiene drückt und verursacht zusätzliche Schmerzen. Ihr positives Denken zu verinnerlichen, ist in ihrem Zustand auch kaum möglich. Immerhin schaffen wir es, bedingt durch Ibuprofen und meinen allgemeinen Erschöpfungszustand, ein paar Stunden Ruhe auf der Couch zu finden.
Am Abend bin ich dadurch aber so fit, dass ich mich für ein paar Stunden von meiner Krankenpfleger Tätigkeit absetzen kann.
Im Roßdorfer Biergarten findet seit langer Zeit mal wieder das monatliche Jam-A-Coustic statt und ich treffe mich dort mit ein paar Bekannten. Die Musik ist klasse und die Gesprächsthemen haben, nachdem ich von Janinas Verletzung berichtet habe, nichts mehr mit Krankheiten zu tun.
Die Band macht eine kurze Pause und ich habe ein interessantes und lustiges Gespräch mit Julie über Julie und höre viel zu. Das dient bestens der gedanklichen Ablenkung. Als die Band wieder spielt und wir wieder bei Jens und Maria sitzen, wird es ein lustiger Abend, auch weil Julie deutlich gut drauf ist und uns zum Lachen bringt.
Der Zustand hält an, bis ich eine Nachricht von Janina erhalte, dass es ihr immer schlechter geht. Es überkommt mich fast schon ein schlechtes Gewissen, sie mit ihren Schmerzen zu Hause alleine gelassen zu haben, aber nur fast, Felicia ist ja auch noch da.
Da mit dem Knie ein schneller Sprint zur Toilette nicht in Frage kommt, ist ein Eimer neben dem Bett sinnvoll, falls sie brechen muss.
Freitag, 04.09.2020
Heute soll Janina wieder nach Offenbach. Der Arzt will röntgen und nachsehen, ob sich das Kreuzband durch die Schiene wieder an die richtige Stelle bewegt hat. Aufgrund von ihrer bösen Magen-Darm-Verstimmung ist nicht daran zu denken und wir können den Termin zum Glück auf Montag verschieben.
Mit Alex, der für ein paar Tage spontan Urlaub in Holland macht, bin ich über WhatsApp in Verbindung. Er schickt mir Bilder von einer wahllos am Strand herumstehende Treppe und schreibt dazu, dass es der „Stairway to Heaven“ sei.
Auf meine Frage, ob er sich sicher ist, antwortet er mir: „100% Wir sehen uns dann im nächsten Leben.“ Ich kann den Spruch nicht richtig einordnen und fange an, mir Gedanken zu machen…
Der Brechreiz lässt bei Janina allmählich nach, aber ihr allgemeines Unwohlsein in Verbindung mit Durchfall bleibt. Zum Glück erweckt sie bei mir aber den Eindruck, auf dem Weg der Besserung zu sein und bei ihr scheint das Glas nicht mehr halb leer, sondern halb voll zu sein.
Vielleicht sollte ich als Motivationstrainer für positives Denken arbeiten.
Samstag, 05.09.2020
Endlich geht es Janina wieder besser, die letzten Tage waren für sie auch schlimm genug. Ich selbst kann nicht besser klagen, weil ich nach wie vor den letzten chemischen Schub gut verkrafte und bis auf die ständigen Fressattacken keine Nebenwirkungen habe.
Der ständige Hunger schlägt sich auf der Waage aber deutlich nieder. Mist, heute wiege ich 87 kg.
Meine Mädels gehen einkaufen und ich schaffe es tatsächlich, den Haushalt einigermaßen auf Vordermann zu bringen und mal wieder den ein oder anderen „Männerjob“ in Haus und Hof in Angriff zu nehmen.
Alex frage ich, ob er auf dem Heimweg ist. Er antwortet, dass er in Xanten ist und seine Memoiren schreibt. Das bringt mich endgültig dazu, mir Sorgen über seinen Gemütszustand zu machen. Erst der „Stairway to Heaven“ und „Wir sehen uns im nächsten Leben“ – jetzt schreibt er Memoiren. Ich mache ihm unmissverständlich klar, dass er noch gebraucht wird und wir dringend reden müssen. Dazu sind Freunde da!
Ich soll nicht so viel hineininterpretieren, aber er scheint sich darüber zu freuen, dass ich mir Sorgen um ihn mache. Wir verabreden uns für Sonntagmittag bei Axel, einem schönen Freizeitgebiet mit Biergarten, Spielplätzen und Teichen bei Münster (nicht in Westfahlen).
Sonntag, 06.09.2020
Heute ist der letzte Tag von Zyklus 3, an dem ich die hungerauslösenden Kortison-Tabletten nehmen muss und ich spiele mit dem Gedanken, die Strecke zu Axel mit dem Fahrrad zurück zu legen.
Normalerweise ist das für mich kein Problem, aber ich habe Bedenken, mich körperlich zu überfordern. Mir bleibt ja noch die Option, Janinas Pedalo zu nehmen. Nach ihrem Sturz muss ich ohnehin mal nachsehen, ob das Rad nicht auch noch operiert werden muss.
Vincent und Loretta kündigen ihrem Besuch untypisch für den frühen Mittag an. Meistens kommen sie immer erst später oder zum Abendessen. Nachdem ich gestern und heute unsere Terrasse und Hof wieder in einen besuchsfähigen Zustand gebracht habe, sitzen wir in der Sonne wie in einer Krankenstation zusammen.
Loretta, die Freundin von Janinas Sohn Vincent, hat vor ein paar Tagen Weisheitszähne gezogen bekommen und so klagt jeder einmal sein Leid und während Vincent mit seiner Schwester Felicia ersthafte Studentengespräche führt, kühlt sich Loretta mit einem Eispack die dicke Backe. Janina kommt mittlerweile ohne Eis und Schmerzmittel aus. Mein leichtes Zwicken im Bauch hänge ich nicht jedes Mal an die große Glocke.
Nachdem wir die Zeit verquatscht haben, ist die Idee, Janinas Rad zu testen, dahin und ich nehme das Auto.
Ich freue mich total, Alex zu treffen und es wird ein richtig guter Mittag mit guten tiefgründigen Gesprächen.
Meine Sorgen waren unbegründet. Auch wenn wir uns schon seit Jahrzehnten kennen, kennen wir uns in mancher Beziehung doch nicht so gut, als dass ich seine Kommentare richtig interpretiert hätte.
Daran ändert sich heute einiges, nachdem ich ihm einfach gesagt habe, dass ich von seinen Beweggründen nur die Oberfläche, aber nichts Tiefgründiges kenne. Mir wird klar, dass er durch seine auch kindliche Vergangenheit Probleme damit hat, sich von selbst zu öffnen.
Ich muss schon bohren, aber es ist kein Stahl mehr, sondern eher Aluminium. Das ist neu und irgendwie schön, denn ich glaube, so ist er noch nicht bei vielen aus sich heraus gegangen.
In seinen Tiefen stochere ich aber nicht weiter herum. Es ist schon viel und ich will nicht das Gefühl vermitteln, zu viel zu verlangen. Wir haben ja noch Zeit bis zum „Stairway to Heaven“.
Janina meldet sich, dass das Abendessen fertig ist und obwohl ich bei Axel schon eine Gemüsesuppe mit Bockwurst und später ein Stück Torte gegessen habe, überkommt mich schon wieder der Hunger. Kaum zu glauben. Ich mache mir Gedanken über meine Figur. Man sagt zwar, ein Mann ohne Bauch sei ein Krüppel, aber ich bin dann doch lieber der Krüppel, als dick.
Zu Hause angekommen, esse ich dann trotzdem ordentlich. Hoffentlich lässt der ständige Hunger bald nach, sonst platze ich noch!
Montag, 07.09.2020
Heute ist der Tag der Wahrheit, was eine Knieoperation betrifft.
Wie ich es mir schon gedacht habe, ist das abgerissene Kreuzband durch die Schiene nicht an die Stelle zurückgekehrt, wo es hingehört und eine Knieoperation ist unumgänglich, das zeigt das neue Röntgenbild auch mir als Laien eindeutig.
Gut ist, dass ich aufgrund meines beruflich bedingten technischen Verständnisses die Vorgehensweise der Operation gleich verstehe und die für Janina beruhigenden Fragen stelle.
Aufgrund meiner Chemotherapie war ich am vergangenen Mittwoch ja leider nicht dabei und es sind für sie zu viele Unklarheiten geblieben, auch weil sich der Arzt wohl laute Gedanken über die eigene Vorgehensweise gemacht hat, die sie eher verunsichert haben.
Jetzt ist alles klar und er erklärt es, zumindest für mich, sehr verständlich. Es ist wie ein Handwerkergespräch.
Nachdem wir wieder zu Hause sind und ich es geschafft habe, mein Tagebuch wieder auf den neuesten Stand zu bringen, ist es an der Zeit, sich mal wieder körperlich zu betätigen. Ich werde mich jetzt auf mein Rad schwingen und ein paar Kilometer fahren.
Wir haben einen Anruf bekommen, der OP-Termin wird um zwei Stunden vorverlegt. Gut so, weniger Zeit für Janina, sich Sorgen zu machen.
Dienstag, 08.09.2020
Die Sachen sind gepackt, wir müssen früh raus. Geschlafen haben wir wenig. Heute Nacht hat mich sogar der ins Fenster scheinende, helle Halbmond gestört. Das ist mir noch nie passiert.
Vor halb 8 sind wir pünktlich da, müssen noch einen Augenblick warten, dann geht es ganz schnell, hoch in den OP-Bereich, kurze Einweisung, dann müssen wir uns verabschieden. Hoffentlich geht alles gut.
Ich besuche meine Ex-Kollegen und bekomme eine Nachricht von Janina, dass sich der Beginn der Operation auf ca. 9.30 Uhr verzögert. Um 11 Uhr bin ich zu Hause und nach dem späten Frühstück grummelt es mehr und mehr in meinem Bauch und der wenige Schlaf in der Nacht fordert seinen Tribut.
Wirklich gut schlafen kann ich aber nicht, döse nur und sehe dauernd auf das Handy, ob Janina sich gemeldet hat.
Irgendwie habe ich heute selbst einen schlechten Tag, mein Magen trägt zum allgemeinen Unwohlsein bei und ich drehe mich voller Sorgen auch gedanklich nur im Kreis. Innerlich weigere ich mich noch, meinen Magen mit Tabletten zu beruhigen.
Endlich der ersehnte Anruf von Janina!
Es geht ihr, wie es einem nach so einer Operation eben geht. Aber im Gegensatz zu den Tagen zuvor, als sich ihr der Magen umzudrehen drohte, klingt sie wesentlich besser und lacht sogar mal kurz.
Felicia kommt von der Arbeit und wir machen uns auf den Weg. Sie fährt. Mir ist einfach nicht danach und wir nehmen meine Magentabletten mit.
Autobahnen sind ihr ein Gräuel, aber heute kommt sie nicht darum herum. Sie erträgt sogar mich, den Lehrer für voraus- und rückschauendes Fahren. Es ist halt auch blöd, wenn man Probleme hat, die Geschwindigkeit der Autos, die man im Spiegel sieht, richtig einzuschätzen. Da hilft nur Erfahrung.
Als wir da sind, nehme ich ganz freiwillig gleich meinen Magenschoner und eine Stunde später, wie empfohlen, die Tablette gegen Übelkeit.
Dazwischen pflaumt Janina mich an, sie ist also wieder da😊, >>freu<<!
Wieder zu Hause bestellen wir uns etwas zu essen. Die beste Köchin fällt ja leider aus und nicht ohne Grund haben wir auch beide keine Lust, zu kochen. Essen, Couch, „heute“ kucken – die Wettervorhersage habe ich schon verschlafen und ich gehe Bett, nachdem ich so gegen 23 Uhr wach geworden bin.
Die Tabletten haben geholfen.