Das Loch...


Um Nikolaus herum habe ich immer mehr angefangen, mich zu fragen, ob ich es geschafft habe, meine Krankheit zu besiegen. Die Nebenwirkungen hatten nachgelassen und ich fühlte mich körperlich recht gut, aber obwohl ich davon ausgehen konnte, wieder gesund zu werden, fehlte mir einfach die Bestätigung.


Meinen letzten Termin der Antikörpertherapie am 16.12.2020 betrachtete ich als Vorsorgebehandlung und er spielte gedanklich keine große Rolle, außer dass ich mich darauf freute, die chemischen Keulen hinter mir zu haben. Nach meinem sicherlich positiven CT-Termin am 21.12.2020 sollte ich den Teil von meinem Reha-Antrag, der vom Onkologen ausgefüllt werden muss, bekommen, damit ich so schnell wie möglich mit meiner „Anschlussheilbehandlung“ beginnen kann.


Dieser CT-Termin hatte sich in meinen Gedanken erst etwas weniger, dann immer mehr festgefressen, weil er mir die ersehnte Bestätigung bringen sollte.

Daraus hatte sich ein Gedankenkarussell entwickelt, dessen Existenz mir Anfangs nicht bewusst war. Erst als mir von der Geschwindigkeit schwindelig wurde, ist mir die hohe Drehzahl selbst aufgefallen, als ich die Fühler aus dem Schneckenhaus streckte, in das ich mich zurück gezogen hatte, ohne es anfangs selbst zu merken. Als Kind hatte ich auf einem Karussell eher das Feuerwehrauto oder ein Motorrad bevorzugt, nie die „lahme Schnecke“, die mir jetzt rasend schnell vorkam.


Nach Nikolaus hatte ich ein langes Telefonat mit dem Goldkehlchen, das mir an dem Tag wirklich gut getan hat. Auch mit meinem sardischen Freund aus der Nähe von Heidelberg habe ich in der Adventszeit ein gutes Gespräch gehabt. Ihn zu besuchen oder mich mit ihm zu treffen ist überfällig, auch weil nicht so weit, aber in der Zeit von Corona eben nicht angebracht.

Ansonsten bin ich aber vor dem CT-Termin immer nervöser geworden. Oft bin ich in einem „Nichtstun“ versackt, weil ich ständig am Grübeln war. Sogar das vor der Tür stehende Weihnachten hatte ich teilweise völlig verdrängt, bis Janina einen Weihnachtswunsch äußerte.


Vor meiner Chemotherapie sagte mein Onkologe, dass Zahnarztbesuche mit einer örtlichen Betäubung nicht so gut wären und weil ich im Februar zuletzt da war, hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Nachdem es sich schon ein paar Tage angekündigt hatte, war Montags klar, dass ich einen Zahnarztbesuch nicht länger aufschieben konnte. Ich konnte aber am gleichen Tag nachfragen, weil ich ohnehin die üblichen Labor- und Arzttermine vor der letzten Antikörpertherapie hatte. Danach bin ich zum Zahnarzt.


Na toll, eine Zahnwurzelbehandlung unter einer Krone ließ sich nicht vermeiden und in mir kam die Erinnerung hoch, dass eine Knochenmarkpunktion nicht so schlimm ist, wie Zahnschmerzen. Der Geschmack des Betäubungsmittels erinnerte mich an das Kontrastmittel, das ich vor zwei CT’s trinken musste.



Computertomographie nach der Chemo


Dann war der ersehnte Termin für die CT-Untersuchung endlich da.

In der Nacht davor hatte ich kaum geschlafen. Ich war schon Tage zuvor bis zum Bersten gespannt und mit meiner Gefühlswelt ständig zwischen Hoffen und Bangen.

Auf den Kontrastmitteldrink konnte zum Glück verzichtet werden, Kontrast gab es nur durch die Vene. Leider war schon vorher klar, dass ich keinen Arzt zu Gesicht bekommen würde, um mir die frohe Botschaft anschließend zu verkünden. Nach wie vor wurde das nicht gemacht, weil es wegen Corona im Wartebereich zu voll werden würde, wenn schon Untersuchte auf ein Ergebnis warten würden.

Wie immer gab es nur einen QR-Code und einen Link, damit man es sich später online selbst ansehen und den Arztbrief lesen konnte. Da ich nachmittags ohnehin zum Onkologen musste, weil eine neue Krankmeldung anstand, fand ich es aber nicht so schlimm und bin nicht auf den Gedanken gekommen, mir das Ergebnis online anzusehen.


Das Resultat konnte mir mein Onkologe leider nicht sagen, weil es einfach noch nicht vorlag, obwohl ich deswegen extra erst recht spät am Nachmittag dort erschienen war. Völlig genervt war ich mit meiner neuen Krankmeldung nach Hause gefahren, um es später mit dem mir von der Radiologie zur Verfügung gestellten Link selbst anzusehen und zu versuchen, daraus schlau zu werden.

Total neben der Spur hatte ich mich etwas später zu Hause an den Rechner gesetzt. Erst fand ich nur Bilder und dann einen Film meiner CT-Untersuchung, die mir natürlich nicht weiterhalfen. Dann fand ich einen Link zum Arztbrief…


Der Befund war für mich eine Katastrophe!

Viele von den lateinischen Begriffen hatte ich nicht verstanden, aber ich wusste, dass gesunde Lymphknoten ungefähr die Größe einer Erbse haben sollten, was für mich bedeutete, dass über 5 Millimeter nicht gut sind.

Leider stand da aber:

Aktuell noch längliche axilläre Lymphknoten bis 12 x 8 mm Durchmesser… noch vereinzelt betonten… Lymphknoten bis 8mm Durchmesser… Im Übrigen unveränderter Befund.

Und das war nur der Brustkorb!

Im Bauch ging es gleich weiter: Weiterhin nachweisbare vergrößerte… Lymphknoten bis 17 x 10 mm… Angrenzend streifige… Verdichtungen… Im Übrigen unveränderte…

Unverändert klang nach „nicht besser“, also weiterhin Scheiße.


Die Beurteilung „Stable disease“, also stabile Erkrankung hat mir dann endgültig die Schuhe ausgezogen.


Da saß ich nun fassungslos mit meinen exzellenten Heilungschancen von über 90 % und anstatt gesund zu sein, war meine Krankheit stabil und einige Lymphknoten immer noch größer als normal.


Ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch und fühlte mich, als hätte ich gerade mein Todesurteil gelesen. Janina konnte mir in diesem Augenblick auch nicht helfen. Es war nur irgendwie klar, dass mein Onkologe mir das genauer erklären musste. Am nächsten Tag wollte ich hingehen...


The day after…


… hat nicht wirklich begonnen, weil ich kaum schlafen konnte und wenn, hatte ich schräge Träume, die mich wieder weckten. Janina musste zur Arbeit und ging davon aus, dass ich zum Arzt gehen würde.

Das wollte ich eigentlich auch, war aber nicht in der Lage dazu. Erst war ich zu müde und habe versucht, zu schlafen, musste aber bald einsehen, dass es nicht wirklich klappen wollte. Schon wie in der Nacht träumte ich irgendwelchen Mist, wurde dauernd wieder wach und dachte nur noch an STABLE DISEASE.

 

Weihnachten stand vor der Tür und ich fragte mich, ob es mein letztes Weihnachten sein würde.

Die vergangenen Monate hatte ich es immer wieder geschafft, mich mit positivem Denken sozusagen am eigenen Schopf aus dem Sumpf der negativen Gedanken zu ziehen, aber das war mir an dem Tag nicht möglich.


Ich hatte einfach Angst.

Angst vor dem Sterben, Angst vor dem Weg dahin, dem Krankheitsverlauf, Angst vor mir noch nicht bekannten Schmerzen und ich machte mir Gedanken darüber, ob ich das wirklich bis zum bitteren Ende durchleiden will und kam zu dem Entschluss, dass ich mir einen solchen vorhersehbaren Abgang nicht geben wollte.

Also bin ich auf Gedanken gekommen, was ich vorher noch regeln sollte.


Mich von meinen ehemaligen Kindern verabschieden? Nein, ich hatte sie innerlich schon zu Grabe getragen. Janina meine Haushälfte für einen Euro verkaufen, damit es nichts außer Schulden zu erben gäbe, hatte mir schon besser gefallen. Dazu noch schnell einen fetten Kredit aufnehmen, um eine letzte Reise zu unternehmen und wenn es unerträglich werden würde…

Nicht einmal das kam wegen Corona in Frage, genauso wenig wie eine letzte Party.


Ich musste an Mike denken. Von seiner Krebserkrankung hatte ich am Tag seiner letzten Party erfahren. Gut ein Jahr später war er daran gestorben. Ob ich ihm wohl begegnen würde? Und all die anderen, die vor mir gegangen waren? Sollte ich Opa Adam sagen, dass sein Spruch mit dem Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist, nichts taugt?

Dann kam Janina von der Arbeit nach Hause, riss mich aus meiner Gedankenwelt und konnte es nicht fassen, dass ich nicht beim Arzt war.


Am nächsten Morgen sind wir zusammen hingegangen. Ich glaube, sie hätte mich sonst an den Haaren hingezogen, wenn sie schon lang genug gewesen wären.


Herr Dingeldein ist ein super Onkologe, aber er hat mich wohl mental stärker eingeschätzt. Er wollte wissen, was wir an dem Arztbrief nicht verstehen. Das Problem war aber, was ich verstanden hatte, nämlich die Größe meiner Lymphknoten und STABLE DESEASE.


Dann fiel alles von mir ab.

Dass ehemals erkrankte Lymphknoten nach der Chemotherapie noch nicht die normale Größe erlangt hatten, sollte ich mir vorstellen wie die Twin Towers, die, nachdem sie in sich zusammen gebrochen waren, nur noch ein riesiger Schutthaufen waren.

So sei es auch bei mir und völlig normal. Mein Körper würde noch lange brauchen, um diese Schutthaufen abzutragen. Die Beurteilung Stable Desease sei unglücklich formuliert und würde bedeuten, dass die Genesung, die ja auch zu meiner Erkrankung gehören würde, stabil sei.


Ok, dass ich diese Formulierung falsch gedeutet hatte, wäre aber nicht so schlimm gewesen, wenn er mir die Geschichte der Twin Towers vor der Computertomographie mal erzählt hätte. Ihm war wohl nicht bewusst, in welcher Verfassung ich einen Tag vorher war! Jemand, der instabiler gewesen wäre, hätte sich vielleicht eine Kugel in den Kopf gejagt.

Noch eine Nachuntersuchung Mitte Januar stand an und dann würden wir in einen vierteljährlichen Untersuchungsrhythmus übergehen.


Plötzlich war alles gut und mir ist der sprichwörtliche Stein vom Herzen gefallen. Völlig Euphorisch hatte ich mit Janina die Praxis verlassen, nachdem Herr Dingeldein mir versichert hatte, dass ich mir keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Die Bescheinigung für die Anschlussheilbehandlung, so soll es handschriftlich auf dem Reha-Antrag vermerkt werden, damit die Wartezeit nicht so lange wird, sollte ich zwischen Weihnachten und Silvester erhalten.

Endlich hatte ich die ersehnte Bestätigung, körperlich wieder gesund zu sein, gerade noch rechtzeitig am Tag vor Weihnachten.


Weihnachten war einfach nur schön, obwohl meine Schwester unser jährliches Treffen kurzfristig abgesagt hatte, weil mein Schwager wegen Corona Bedenken hatte. Ich fand es nicht schlimm, schließlich hatte ich ja die Aussicht, noch ein paar Weihnachten zu erleben.


Körperlich genesen noch tiefer ins Loch


Zwischen Weihnachten und Silvester bin ich dann trotz oder gerade wegen der frohen Botschaft total abgestürzt. Janina musste arbeiten und ich hatte plötzlich nichts mehr zu tun. Zumindest hatte ich das Gefühl. Auch meine Bescheinigung für die Rehabilitation war nicht abholbereit.


Der Kampf gegen den Krebs war vorbei und die Angst verflogen. Aus dem Gedankenkarussell war ich ausgestiegen. Plötzlich stand ich davor und wusste nichts mit mir anzufangen. Zu schreiben hatte ich einfach keine Lust. Ich fühlte mich nur müde und erschöpft und war heilfroh, es hinter mir zu haben und am Leben zu sein. Das war´s dann aber auch.

Ansonsten war ich in intensivem Nichtstun versackt, was nicht gerade zu guter Laune bei Janina beigetragen hatte, weil ich ganze Tage fast nur auf der Couch verbrachte.


Silvester war Corona bedingt eigenartig.

Damit ich den Jahreswechsel in wachem Zustand erlebte, musste ich erst mal einen Mittagsschlaf einfügen. Dann kamen Alex und Paula zu Besuch, sind aber wegen der Sperrstunde um viertel nach acht wieder nach Hause gefahren. Vorher hatten wir lecker Raclette genossen und anschließend eine Runde Exit gespielt. Rock around the clock in 3SAT hatte die ganze Sache einigermaßen abgerundet, aber eine richtige Party war es natürlich nicht.


Auch nach Silvester bin ich nicht in die Gänge gekommen. Meine Laune wurde immer schlechter. Ich konnte mich selbst nicht leiden.

Keine Arbeit zu haben, die mir schon immer behilflich war, mich für ein paar Stunden gedanklich abzulenken, war zutiefst frustrierend.

Ich fühlte mich überflüssig, zu nichts zu gebrauchen, also wie ein nutzloser Sauerstoffverbraucher. Gut, keiner ist überflüssig und kann immer noch als schlechtes Beispiel dienen, aber das war nie mein Lebensziel und daran zu denken hatte meine Laune nur noch verschlechtert.