5. Zyklus / 1. Woche
Mittwoch, 14.10.2020
Ok, Zyklus 5 steht an und beschließe früh am Morgen, dass es von den Nebenwirkungen nicht schlimmer als beim 4ten Zyklus werden wird. Immerhin habe ich gut geschlafen und war nur einmal kurz wach.
Der frühe Vogel fängt den Wurm und ich habe schon, bevor ich das Haus für meinen Termin um 8.15 Uhr verlasse, alle Tabletten genommen. Zuerst ASS-100 zur Blutverdünnung, damit ich keinen weiteren Schlaganfall bekomme, danach eine um den Magen zu schonen. Eine Stunde später zum Frühstück ist die eigentliche Magentablette dran, damit mir nicht schlecht wird und nachdem ich etwas gegessen habe, startet wieder die Einnahme von täglich zwei Kortison-Tabletten, die mir wieder in den nächsten fünf Tagen eine Fresssucht bescheren werden.
Janina kann mittlerweile ihre bewegliche Schiene tragen und somit auch wieder Auto fahren. Endlich ist sie nicht mehr so zu Hause angebunden, auch wenn sie natürlich noch immer nicht so gut zu Fuß ist, aber ihre Beweglichkeit im Knie wird immer besser. Deshalb fährt sie mich zur Chemotherapie und holt mich auch wieder ab.
Bis auf den animalischen Hunger geht es mir gut und Janina fängt gleich an, zu kochen, nachdem wir wieder zu Hause sind. Leider ist sie stark erkältet. Sie hat wegen mir sogar im Auto ihren Mundschutz getragen und ich schlafe deswegen auch auf der Couch. Wegen ihrer verstopften Nase merkt sie leider auch erst zu spät, dass sie Oregano mit Kümmel vertauscht hat und unsere Spaghetti Bolognese schmecken ziemlich eigenartig oder nennen wir es ungewohnt.
Die Fresssucht ist noch nicht eingetreten, aber wie immer bin ich müde. Trotzdem raffe ich mich auf und gehe spazieren. Immer schön brav auf den Doktor hörend gehe ich bei gelegentlich leichtem Nieselregen von zu Hause aus in Richtung Roßberg. Am Sonntag bin ich bis nach oben mit dem Auto gefahren. Heute laufe ich die ganze Strecke und bin fast genau eine Stunde zügig unterwegs ohne Pause und ohne kurzatmige Schnappatmung. Geht doch.
Donnerstag, 15.10.2020
5. Zyklus 2. Tag. Nicht ganz so früh wie gestern bin ich wach und muss einen Teil meiner Tabletten mitnehmen, weil ich noch nichts gefrühstückt habe.
Leider hat sich ein Teil meines Frühstücks in meinen Rucksack entleert, super. Nachdem ich die Spuren meines Frühstücks aus dem Rucksack entfernt, anschließend etwas gegessen und auch die Tabletten genommen habe, fange ich doch an, mich für die Substanzen, die mir verabreicht werden, zu interessieren.
Donnerstags bekomme ich einen richtigen Cocktail aus fünf verschiedenen Flaschen und einer Spritze, die mir nur ein Arzt geben darf, verabreicht. Die Inhaltsangaben der verschiedenen Flaschen sind so reichhaltig, dass man sich das unmöglich merken kann. Auf jeden Fall sind sie alle ganz persönlich auf mich bezogen und mit meinem Namen versehen. Bei meinem letzten Zyklus muss ich daran denken, mal Fotos von den Etiketten zu machen, falls ich später mal genauer wissen will, was mir während der Chemotherapie eingeflößt wurde.
Johannes Mario Simmel, Musik und eine Runde Augenpflege von innen vertreiben mir zwischenzeitlich die Langeweile. Mit einem Mitpatienten, dessen Tätowierungen der Band Kiss mir schon beim letzten Zyklus aufgefallen sind, komme ich ins Gespräch. Er hat Knochenkrebs und ärgert sich damit schon seit vier Jahren herum, aber auch er, obwohl er schon viel länger als ich krank und schon Frührentner ist, ist von der Wirkung von positivem Denken überzeugt und das nach so langer Zeit. Seine Zuversicht finde ich bemerkenswert.
Später am Nachmittag fällt mir auf, dass ich am Dienstag den Geburtstag meiner älteren Tochter vergessen habe. Die Kontaktlosigkeit ist ein leidiges Thema, dass mich sehr lange beschäftigt und auch in die Hochgrat-Klinik gebracht hat. Dort habe ich gelernt, die ganze Sache hinter mir, die Tür aber offen zu lassen. Es scheint mir recht gut gelungen zu sein, sonst wäre es mir gefühlsmäßig in den letzten Tagen sicher schlechter ergangen. Sicher spielt auch eine Rolle, dass ich doch sehr mit mir selbst beschäftigt bin. Ein nicht nur sarkastisches Hoch auf meinen Egoismus.
Freitag, 16.10.2020
Zum Glück habe ich wieder einen Zyklus geschafft. Jetzt muss nur die Heilung fortschreiten und ich muss die Nebenwirkungen verarbeiten. Die halten sich aber noch zurück. Nur mein Geschmackssinn nimmt mal wieder rapide ab.
Da sich nach drei Zyklen über die Hälfte meiner Tumore schon verabschiedet haben, gehe ich davon aus, dass, bis Zyklus 5 sich voll entfaltet hat, auch der Rest geht. Zyklus 6 muss höchstens noch einen kleinen Rest der nicht mehr zu mir gehörenden Zellen abräumen. Ich bin fast stolz.
CHEMO, CHEMO, CHEMO, …!!!
Ich frage Lilly, was aus unserem Treffen in Karlsruhe wird und sie will wissen, wie es mir gerade geht. Wegen meinem aufkommenden Heißhunger schlage ich vor, dass wir noch heute eine Stück Torte in Karlsruhe essen sollten. Torte essen ist bei unseren Treffen Kult. Spontan kann sie leider nicht, schade.
Bei meiner Vorgeschichte fehlt noch etwas und ich schreibe noch ein paar Seiten dazu. Auch mein Tagebuch beschäftigt mich.
Von unserem vor über 10 Jahren an Leberkrebs verstorbenen Freund Mike hat sich Alex von Mary, seiner Witwe, seine zwölfsaitige Gitarre und seinen Bass ausgeliehen. Lange Jahre nach Mike´s frühem Tod hatte er nicht mehr Gitarre gespielt und erst vor ein paar Jahren wieder damit begonnen.
Jetzt will er zusammen mit meiner Busenfreundin Tatjana, seiner Ex-Ex-Partnerin, die eine Wahnsinnsstimme hat und dazu ein wandelndes Textbuch ist, wieder wie damals ein paar Mike Revival Stücke aufnehmen.
Hell freezes over, denn auch sie ist sofort dabei, nachdem wir miteinander telefoniert haben. Wenn sie ihre Kinder unterkriegt, treffen wir uns nächsten Freitag. Ich freue mich schon jetzt.
Wir sehen uns leider nicht so oft. Das letzte Mal habe ich sie zwei Tage vor der Entdeckung meines Leistentumors getroffen und wir sind mit ihrem Hund über den Main den Spessart hoch zur „Schönen Aussicht“ und über die Rückersbacher Schlucht zurück nach Mainflingen über 20 Kilometer gewandert. Sie kann nicht nur klasse singen, sie ist auch gut zu Fuß.
Samstag, 17.10.2020
Wie immer samstags hole ich erst Mal das Darmstädter Echo aus dem Briefkasten, lese Zeitung und mache die Sudoku- und das Kreuzworträtsel. Wohl weil mein Geschmackssinn abgestorben zu sein scheint, habe ich so früh noch keinen Hunger.
Das relativ späte Frühstück schmeckt erbärmlich, nämlich gar nicht, aber wegen der Medikamente muss ich ja etwas essen. Außerdem habe ich natürlich doch Hunger bekommen. Nach zwei geschmacklosen Scheiben Toast mit Käse und Schinken versuche ich es kurz darauf mit einem Nutella Brot. Das ist schon besser und ich schmecke wenigstens ein bisschen davon, was meine Gedanken wieder auf ein Stück Torte bringt.
Ich entdecke, dass Lilly mir gestern noch geantwortet und nachfragt hat, ob Montag passt. Mal sehen, wie es mir dann geht.
Nachdem ich mir einbilde, dass die Vorgeschichte in Ordnung ist, schicke ich sie Alex als PDF, er will, bevor ich alles ins Netz stelle, mal lesen, was ich so zum Besten gebe. Hoffentlich bekomme ich von ihm einen Kritikerpreis ;o)
Wieder in der Schonzeit zwischen Zyklus und ekelhaften Nebenwirkungen geht es mir heute gut, nur erschöpft wie meistens bin ich.
Ich schleppe mich ins Bad und rasiere meine Glatze. Haare wollen zwar wachsen, aber das Gefühl bleibt nicht aus, dass es deutlich weniger sind, als vorher. Es kommt mir vor, wie Gries mit Spaghetti zu vergleichen – einen Millimeter Haare mit 50 Zentimeter.
Auch mein Bartwuchs ist zwar wieder etwas mehr geworden, aber leider auch nur lückenhaft und ich beschließe, den bisher eisern verteidigten, kärglichen Rest Oberlippenbart dem Rasierapparat zu opfern, damit ich ab sofort den ganzen Kopf flächendeckend rasieren kann. Ich erhoffe mir, dadurch einen gleichmäßigen Haarwuchs zu erreichen, sobald die letzte Chemotherapie verdaut ist. Jetzt ist bis auf die Augenbrauen und Wimpern, die mir zum Glück noch geblieben sind, wirklich mein ganzer Kopf kahl.
Die Waage ist weiterhin gnadenlos und schreit mir 88 kg entgegen. Daran will ich, wenn die Nebenwirkungen Ende nächster Woche wieder nachgelassen haben, arbeiten. Mit Intervallfasten, täglich 8 Stunden essen und 16 Stunden fasten und mehr Bewegung sollte ich es schaffen, bis zum letzten Zyklus ein paar Kilo abzunehmen. Das ist auch bitter nötig, die Hosen werden eng und ich habe weder Lust noch Geld, mir neue zu kaufen.
Sonntag, 18.10.2020
Relativ spät merke ich, dass ich ein paar Anrufe und Nachrichten auf dem Handy habe. Alex will sich ein Auto in der Nähe von Stuttgart ansehen und soll um 13 Uhr da sein. Zum einen will und kann ich ihn nicht hängen lassen, zum anderen bin ich selbst froh, aus dem Haus zu kommen.
Erst hatte sich Felicia, jetzt Janina eine ordentliche Erkältung eingefangen und ich merke selbst auch schon ein leichtes Kratzen im Hals, obwohl ich die letzten Nächte, um mich nicht anzustecken, auf der Couch geschlafen habe. Also auch um nicht den ganzen Tag im Erkältungshaus zu verbringen, rufe ich ihn an, sage ihm zu und mache mich, nachdem ich meinen Rucksack mit Proviant und Tabletten bepackt habe, auf den Weg, um ihn abzuholen.
Um zwei Uhr kommen wir in Rottenburg am Neckar an und nach langem Palaver und der Probefahrt ist klar, dass Alex das Auto nicht nehmen wird. Er will zwar einen Audi A 6 mit Gasanlage, auf jeden Fall einen Kombi, weil er wegen seinem Flipper-Hobby Platz ohne Ladekante braucht, aber die Kosten, dieses Auto mit Getriebeschaden wieder flott zu machen sind nicht kalkulierbar. Zum Glück. Wir hätten ihn sonst heute noch nach Kassel zu einem Schrauber gebracht. Das wäre dann eine richtige Mördertour geworden.
So machen wir uns nach Kaffee und Kuchen wieder auf den Rückweg. In Stuttgart, weil wir ohnehin daran vorbei fahren, machen wir noch einen kurzen Besuch auf einen Friedhof. Eine gute Freundin von mir ist im April gestorben.
Auch ohne die Strecke nach Kassel ist es nach 21 Uhr, bis ich wieder zu Hause bin, weil Alex es sich nicht hat nehmen lassen, mich zum Essen einzuladen.
Montag, 19.10.2020
Ich bin auf der Couch eingeschlafen und werde mitten in der Nacht wach. Sofort ist mir klar, dass die Erkältung jetzt auch mich voll erwischt hat. Na super. Mit Schleimlöser, einer Halstablette und Pfefferminztee sage ich der Erkältung den Kampf an und kann sogar noch einmal einschlafen. Als ich wieder wach werde, ist es noch schlimmer.
Heute früh muss Janina zu ihrem Chirurgen nach Offenbach. Ihr Knie heilt und der Arzt ist zufrieden.
Ab Mittwoch will sie mit ihrer beweglichen Schiene wieder arbeiten gehen. Ich bin gespannt, ob sie damit sechs Stunden sitzen kann.
Wieder zu Hause bin ich reif für das Bett. Weil jetzt auch noch meine Nase dicht ist, schmecke ich wieder so gut wie gar nichts. Den Rest des Tages liege ich unter meiner Decke, werde von Janina liebevoll eingesalbt, lutsche eine Halstablette nach der anderen, versuche meinen Schleim loszuwerden und huste mir fast die Seele aus dem Leib, dass mir davon teilweise schwindelig wird. Hoffentlich werde ich die blöde Erkältung los, ohne noch mehr Medikamente nehmen zu müssen.
Die Nacht zum Dienstag ist ähnlich wie die letzte.
Dienstag, 20.10.2020
Wieder bin ich mitten in der Nacht wach, um mir Tee zu kochen und meinen Kopf vom Schleim zu befreien. Wenigstens habe ich bisher kein Fieber gehabt, das kann ich gebrauchen, wie ein Loch im Kopf. Später habe ich einen Labortermin und ich frage mich, ob ich den nicht einfach absagen soll. Meine krebskranken Mitpatienten in der Praxis will ich nicht anstecken.
Weil, wie sich bei meiner Ankunft heraus stellt, der Server in der Praxis immer noch nicht läuft, habe ich telefonisch niemanden erreichen können und mich doch auf den Weg gemacht. Letzten Mittwoch hatte er schon den Geist aufgegeben und in der Praxis sind alle Mitarbeiter am Rotieren, weil sie alles handschriftlich erledigen müssen. Nachdem ich mich angemeldet habe, warte ich lieber vor der Tür, bis ich an die Reihe komme.
Langsam geht es mir wieder etwas besser, Schleimlöser und Co. und wohl auch die leckere Gemüsesuppe, die Janina gekocht hat, verrichten ihren Dienst. Die Nebenwirkungen, die beim letzten Mal dienstags mittags angefangen haben, machen sich noch nicht bemerkbar.
Verwunderlich finde ich, seit letzten Mittwoch kaum Fressattacken gehabt zu haben. Das kann mir aber nur recht sein. Vielleicht stelle ich mich nachher vor dem Duschen mal wieder auf die Waage.