3. Zyklus / 3. Woche
Mittwoch, 16.09.2020
Das Gespräch mit Holly beschäftigt mich. Es ist eine gute gedankliche Ablenkung.
Ich lese Rosas Blog und amüsiere mich köstlich dabei. Blöd ist nur, dass es nur auf dem Handy funktioniert. Mit dem Rechner bekomme ich eine Warnung, dass ein mögliches Sicherheitsrisiko erkannt wird und ich frage mich, ob mein Handy, mit dem ich problemlos den Blog aufrufen kann, anfällig für Attacken ist.
Eigentlich will ich noch einmal schwimmen gehen, aber für den Mittag fragt Paula nach, ob sie uns besuchen kann.
Ich verschiebe mein Vorhaben, weil das Wetter die ganze Woche noch gut sein soll und wir sagen ihr zu.
Weil wir wegen Janinas OP-Termin ihre Einladung zum Geburtstagskaffee nicht wahrnehmen konnten und die Zeit es nicht wirklich erlaubt hat, ihr angedachtes Geschenk zu besorgen, mache ich mich deshalb auf den Weg und kaufe ihr einen Gutschein für eine Klangschalenmassage.
Überraschend taucht sie etwas verspätet auf – mit dem Fahrrad. Sie ist wirklich sportlich, aber von der Strecke durch den Odenwald von Höchst nach Ober-Ramstadt ist sie bedient und sagt gleich, dass sie den Rückweg mit dem Zug fahren will. Kann ich verstehen.
Über ihr Geschenk freut sie sich richtig. Es ist ja auch mal etwas ausgefallenes und ich selbst freue mich auch auf meinen Termin am 2. Oktober, weil mir selbst ein solcher Gutschein geschenkt wurde.
Donnerstag, 17.09.2020
Nachdem ich es geschafft habe, mit meinem Tagebuch wieder auf dem neuesten Stand zu sein, ist es an der Zeit, in die Radiologie zu fahren.
Also packe ich die nötigen Sachen zusammen und mache mich auf den Weg, dieses Mal wieder in die Praxis im Alice-Hospital, weil sie im Elisabethen-Stift eine neue CT-Anlage eingebaut bekommen.
Dort angekommen fragen sie mich nach meiner Überweisung. Verdammt, die hatte ich nicht mehr auf dem Schirm und habe sie natürlich nicht dabei.
Es mag daran liegen, dass ich sie bei der Terminvereinbarung schon vorgelegt hatte. Sie wurde mir aber wohl wieder ausgehändigt. Meine Onkologische Praxis hat leider gerade Mittagspause, sodass es auch nicht möglich ist, dass sie auf die Schnelle per Fax in der Radiologie landet. Eine Ausnahme können oder wollen die netten Damen nicht machen, weil sie ja nicht wüssten, was genau bei mir gemacht werden soll. Auch mit meiner Aussage, dass ich ihnen das genau sagen kann, bewegt sie leider nicht dazu, fünfe Mal gerade sein zu lassen und ich bekomme einen neuen Termin für morgen.
Na toll. Jetzt kann ich mir einen Tag länger Gedanken machen, ob der gewünschte Erfolg der Chemotherapie eingetreten ist oder nicht.
Zuhause entdecke ich die blöde Überweisung. Sie liegt, leider etwas versteckt, unter meiner Krankmeldung.
Freitag, 18.09.2020
Vor einer Woche ging es mir noch nicht so gut. Heute bin ich körperlich beschwerdefrei, aber Engel und Teufel sitzen auf meinen Schultern.
Der Engel glaubt natürlich daran, dass ich wieder gesund werde aber der Teufel schürt die Angst, nicht zu den über 90% zu gehören, die geheilt werden.
Zum Glück überwiegt der Engel – mit der Ablenkung auf seiner Seite. Ich spiele Mahjong am Bildschirm und recherchiere im Internet, bis es an der Zeit ist, sich startklar zu machen.
In der Radiologie angekommen erfahre ich nach der Anmeldung, dass ich wieder einen Liter leckeres Kontrastmittel in einer Stunde trinken soll.
Na toll, das hätte gestern locker gereicht, um die Überweisung zu Hause zu holen. Das Zeug schmeckt so übel wie beim Zahnarzt, nur hier muss ich es schlucken und kann es nicht ausspucken. Ekelhaft!
Ich sage Janina, die mit Felicia wegfahren will, bescheid, dass es hier länger dauern wird.
Nachdem ich ein „Selfie“ mit angewidertem Blick und meinem leckeren Drink bei WhatsApp verschickt habe, bekomme ich von ein paar lieben Menschen Zuspruch und es kommt schnell zu geistigem Dünnschiß, was mein Getränk betrifft.
Tumor ist, wenn man trotzdem lacht und ich mache dabei natürlich mit, lache mich innerlich kaputt, laut wäre unpassend, ich sitze im Garten vom Alice-Hospital und versuche in meinen Drink Bierschaum zu rühren.
Wieder in der Praxis geht es dann recht schnell. Ich liege vor der Röhre und bekomme für ein weiteres Kontrastmittel eine Kanüle gelegt. Lieber Gott, das Mädel muss noch üben. Manche schaffen das und man merkt gar nichts, sie ist das Gegenteil.
Arme nach oben legen und los geht´s. Einatmen, Luft anhalten, weiteratmen. Das macht man dann ein paar Mal, bekommt dabei Kontrastmittel verabreicht, vom dem einem warm um die Eier wird, bis der Bauch und Brustraum komplett durchleuchtet sind und kann nach wenigen Minuten die Szenerie wieder verlassen.
Einen Arzt, der die neuen Bilder mit den alten vergleicht, kann ich wegen Corona leider nicht sprechen. Man lässt es sein, weil der Warteraum zu klein ist, um auch die Patienten, die nach der Untersuchung ein Ergebnis haben wollen, dort warten zu lassen. Ich warte nur kurz auf eine CD mit den Bildern, die habe ich mir aber schon beim letzten Mal nicht angesehen. Außerdem habe ich gleich bei der Anmeldung eine Karte mit einem QR-Code bekommen, mit dem ich am Nachmittag den Befund der Radiologie lesen kann.
Darauf verzichte ich gerne. Die Bilder und Befunde werde ich mir zu Gemüte führen, wenn ich wieder gesund bin. Jetzt muss ich eben noch bis Montag, wenn ich wieder einen Termin beim Onkologen habe, warten, bis ich die frohe Botschaft erhalte, dass meine Tumore den Rückzug angetreten haben.
Gedanklich komme ich wieder in die Boxarena, wo der Tumor nach der Hälfte der Runden, in den Seilen hängend, von meiner höheren Macht angezählt wird und Chemo kampfbereit auf die nächste Runde wartet.
Die Arena tobt: CHEMO, CHEMO, CHEMO, CHEMO …!!!
Samstag, 19.09.2020
Es ist ein schöner Tag und ich kann auf meiner Planstelle etwas bewegen.
Denise kündigt ihren Besuch an. Liane kommt später zum Grillen und am Abend ist Marc´s Tanzalternative. Mit gutem Timing lässt sich Freizeitstress vermeiden. Ich schaffe es sogar noch, in die Waschanlage zu fahren. Das Auto hat es nötig.
Mein Schwesterherz wollte vor ein paar Wochen schon einmal kommen, aber es hatte irgendwie nicht gepasst. Wir verbringen einen entspannten Nachmittag auf der Terrasse, quatschen und genießen Eiskaffee und leckeres Schwarzwälder Eis.
Liane bringt einen Hokkaidokürbis zum Grillen mit. Ich kenne ihn nur als Suppe und bin gespannt. Gegen Geschmacksexperimente habe ich nichts einzuwenden. Seit mir der vorübergehende Verlust des Geschmacksinns droht, esse ich viel bewusster. Gestern haben wir schon vegetarische Wraps mit Süßkartoffelfüllung gegessen. War auch sehr lecker und ich habe kein Fleisch vermisst.
Ich fühle mich heute sogar so gut, dass ich die schwere, mit den restlichen, glühenden Grillkohlen gefüllte Feuerschale vom höher liegenden Garten alleine auf die Terrasse tragen kann und mache Janina und Liane ein schönes Lagerfeuer, bevor ich mich für Marc´s Tanzalternative startklar mache.
Dort angekommen wollen alle wissen, wie es mir und Janina geht. Das ist nicht verwunderlich, hier sitzt ein großer Teil meines engen Kreises, die jetzt alle wissen, dass ich krank bin und Janina mit dem Rad gestürzt ist. Ein Teil davon sieht mich zum ersten Mal mit Glatze.
Sandra, für mich nicht zum engen Kreis gehörend, erkennt mich nicht und fragt bei Alex nach, ob ich auch noch kommen würde.
Schade, dass ich das nicht mitbekommen habe, sonst hätte ich mal schauspielern und mich bei ihr nach mir erkundigen können.
Das wäre für mich sicher interessant und für die anderen Unterhaltsam gewesen.
Die Musik ist wie immer klasse, jeder kann vorher Musikwünsche abgeben und Marc baut sie dann in seine Playlist ein. Paula ist auch da, sitzt im Kreis um das Feuer, wo der Mindestabstand manchmal unterschritten wird und tanzt dann im großen Wohnzimmer, wo man sich problemlos aus dem Weg tanzen kann, wir sind ja nicht mal 10 Leute, mit Mundschutz.
Ich hinterfrage den tieferen Sinn nicht. Mir kann es ja nur recht sein, zu wissen, dass Menschen, die mir begegnen, wegen Corona sehr vorsichtig sind, aber das gehört für mich unter die Kategorie – kann man verstehen, muss man aber nicht.
Etwas mehr Abstand am Feuer macht meiner Meinung nach mehr Sinn, als beim Tanzen zu viert auf gut durchlüfteten geschätzten über 30 m² eine Maske aufzusetzen.
Ich habe, als ich angekommen bin, alle ganz allgemein ohne die üblichen Umarmungen gegrüßt. Das geht auch mal. Wenn mir jemand näher kommt und das kann ja überall passieren, halte ich einfach kurz die Luft an, bis wir wieder Abstand haben.
Sonntag, 20.09.2020
Der ereignisreiche Samstag fordert seinen Tribut. Ich bin körperlich platt und wir chillen vor uns hin.
Gestern habe ich den Bammel vor einem eventuell schlechten Ergebnis der CT-Untersuchung gut ausblenden können. Heute ist das schwieriger und ich merke, wie ich ein um das andere Mal gedanklich meine positive Käseglocke verlasse und mir Sorgen mache, dass doch nicht alles so laufen könnte, wie ich es mir vorstelle.
Zum Glück schaffe ich es aber immer wieder, in die Arena zurück zu kommen:
„CHEMO, CHEMO, CHEMO, CHEMO, …!!!
Schlafen hilft auch und nach einem schönen Mittagsschlaf, bei bestem Wetter, wie blöd eigentlich, liege ich früh am Abend vor dem Fernseher, das lenkt auch gut ab.
Montag, 21.09.2020
Arzttermin beim Onkologen um 9.20 Uhr. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, was die Untersuchung vom CT ergeben hat.
Meine vorher geprüften Blutwerte sind in Ordnung. Der Befund vom Radiologen ist noch nicht da und Herr Dingeldein fordert ihn an. Bis er wieder kommt, bin ich innerlich bis zum Bersten gespannt, lasse es mir aber von Janina, die nur zum Arztgespräch kurz in die Praxis darf, nicht anmerken.
Nach einer für mich gefühlten Ewigkeit kommt Herr Dingeldein endlich wieder und er bringt die für mich erhofften Neuigkeiten mit.
Wie geil!!!
Alle Tumore sind auf dem Rückzug und von der Größe um mehr als die Hälfte reduziert. Alle Bedenken und Ängste sind mit einem Mal wie weggeblasen.
Die Untersuchung der Blutwerte um den 10ten Tag nach der Chemo verlegen wir um 2 bzw. 3 Tage nach vorne, weil es mir nach einer Woche eher bescheiden geht, als nach zehn Tagen. Mit einer Verschärfung der Nebenwirkungen muss ich zwar rechnen, aber ich denke, dass ich das mit dem Wissen, dass die Tumore nachgeben, aushalten kann, auch wenn es schlimmer wird.
Mal sehen, wie ich in ein paar Tagen darüber denke, am Mittwoch startet der 4te Zyklus Chemotherapie.
Zu Hause schreibe ich meinen engsten Kreis über die gute Nachricht per WhatsApp. Fishing for compliments.
Der darauf folgende Zuspruch ist wie Wasser auf die Mühlen meines positiven Denkens und es kommt mir vor, genau das zu brauchen. Die Anteilnahme tut mir gut und bestärkt mich.
Ich kann nur empfehlen, seine Umwelt mit einzubeziehen. Darüber zu reden tut mir gut, wie darüber zu schreiben.
Die Antworten sind teilweise schmeichelhaft und wie Balsam für die Seele. Es gibt mir das Gefühl, anderen nicht egal zu sein.
Als würden gute Dinge, die ich in meinem Leben gemacht habe, zurück kommen.
Die nicht so guten haben das ja auch getan und sind in der Form Hirnblutung durch Gewalt, Schlaganfall und Krebs ja auch wieder aufgetaucht.
Wieder kann ich der Krankheit positives abgewinnen. Diese Lebenserfahrung hätte ich ohne Krebs nicht oder nicht in diesem Maße gemacht.
Abends habe ich mir zur Feier des Tages ein Schniposa (Schnitzel mit Pommes und Salat) bei feinstem Rock im Steinbruch-Theater gegönnt und ein paar vom engen Kreis getroffen. Mit meinen Füßen grabe ich Löcher unter die Festgarnitur, weil man ja nicht tanzen darf. Scheiß Corona.
Dienstag, 22.09.2020
Körperlich geht es mir gut. Morgens bin ich leicht nervös, weil morgen der 4te Zyklus beginnt und ich hoffe, es weiterhin so beschwerdearm zu überstehen, wie bisher.
Mittags begebe ich mich zu „Weiterleben, Weiter Leben, Weit erleben“ einem Verein für psychosoziale Krebsberatung. Ich gehe offen dahin und will mir erst mal anhören, was die genau anbieten.
Es geling mir zwar mit positivem Denken den Kampf gegen meine Tumore zu unterstützen, aber ich merke, dass ich mich auf einem schmalen Grat bewege und schnell davon abkommen kann. Ein Sicherungsseil kann ich auf jeden Fall gebrauchen, damit ich auf meinem Pfad bleibe. Es kann also nicht schaden, wenn ich da mal einen professionellen Gesprächspartner an der Hand habe.
Informativ ist das Gespräch auf jeden Fall. Unter psychosoziale Krebsberatung konnte ich mir bisher nicht wirklich etwas vorstellen. Jetzt erfahre ich, dass ich ein Anrecht auf einen Behindertenausweis habe. Das hört sich für mich erst mal befremdlich an, bringt aber wohl auch viele Vorteile, vor allem Arbeitsrechtliche, mit sich.
Von der Deutschen Krebshilfe kann man einen finanziellen Zuschuss erhalten, wenn man bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Das kann bei uns der Fall werden, wenn Janina aus der Lohnfortzahlung rauskommt.
Außerdem bekomme ich einen Gesprächstermin mit einer Psychologin und Kontaktdaten für eine Selbsthilfegruppe mit meiner Krebsart. Alles in allem eine Menge Input für eine Stunde, die ich zu Hause noch mal richtig sichten muss.
Jetzt ist es an der Zeit, Janina abzuholen. Sie hat sich von Felicia ins Büro fahren lassen, weil ihre Vertretung Fragen hat und wichtige Dinge ohne sie nicht einfach so funktionieren. Wenn über 2000 Menschen ihr Geld nicht pünktlich bekommen bricht sonst eine Revolte aus. Mit schmerzverzerrtem Gesicht steigt sie ins Auto. Drei Stunden waren wohl zu viel und es ist an der Zeit für sie, sich in die Horizontale zu begeben.
Heute ist Herbstanfang, es scheint jedoch der letzte Sommertag zu sein und ich fahre nach Zellhausen, um die Badesaison zu verabschieden.
Dort angekommen scheine ich außer einem Hund der einzige zu sein, der ins kühle Nass will. Den Strand haben schon Angler in Beschlag genommen. Ich habe Bedenken, dass die rumnörgeln, aber dann entdecke ich doch noch einen Schwimmer und beschließe, es ihm nach kurzem Plausch gleich zu tun und springe ins Wasser.
Nach wenigen Metern kommt noch eine Schönheit um die Ecke geschwommen, die ich schon über 20 Jahre kenne, aber im ersten Augenblick bin ich mir nicht sicher, ob sie es wirklich ist. Ich spreche sie an, sie erkennt mich an meiner Stimme, bemerkt sofort meine Glatze und will warten, bis ich kurz über den See geschwommen bin.
Wenn ich fit bin, schaffe ich die Strecke auch schneller, aber nach 15 bis 20 Minuten bin ich wieder da. Inge hat tatsächlich gewartet. Wir freuen uns, uns mal wieder zu begegnen. Seit ich nicht mehr hier wohne, sehen wir uns meistens nur am See, aber dazu ist es in diesem Jahr noch nicht gekommen. Ein Beispiel dafür, dass es nie zu spät ist.
Inge hat einen Blick für Fakten, hat natürlich meine Glatze, sie kennt mich nur mit langen Haaren und meinen Port bemerkt und fragt ganz direkt, was mit mir los ist.
Ihre direkte Art, aber auch ihre Zweideutigkeit mag ich schon immer und wir fangen an zu reden. Natürlich über Lymphknotenkrebs und wie ich ihn bemerkt habe, wie es mir gelingt, mit positivem Denken meine Chemotherapie zu unterstützen und fast nebenbei erzählt sie mir, dass sie Gebärmutterhalskrebs hat.
Na toll. Sie hat es also auch erwischt. Jetzt ist es an mir, zuzuhören und Dinge wissen zu wollen und wir quatschen weiter, bis es für beide wirklich an der Zeit ist, sich auf den Heimweg zu machen.
Wir tauschen unsere Nummern aus. Ich will ihr Bescheid sagen, wenn ich mein Tagebuch ins Netz stelle.